(13.05.2016 – Tag 722)
Gleich nach dem Anlegen in der Marina Costa de Huelmo telefoniert Thomas mit American Airlines, der Fluggesellschaft mit der wir nach Deutschland fliegen wollten. Ja, das Problem mit biometrischen Reisepässen ist ihnen wohl bekannt, trotzdem gibt es bei Storno keinen Cent zurück, nicht einmal die Steuer – wie in Europa üblich. Die Stimmung am Bord trübt sich weiter ein. Anschließend ruft Thomas im deutschen Konsulat in Santiago an und erkundigt sich, ob und wie man Pässe im Eilverfahren beantragen kann. Man sagt uns, es dauert zwei bis drei Wochen bis die Pässe fertig sind. Es könnte also noch klappen – in knapp 3 Wochen geht unser Flug.
Schnell wird ein Auto gemietet, in Windeseile gepackt und früh am nächsten Morgen sind wir schon unterwegs. Mehr als 1.000 Kilometer liegen vor uns. Zu sechst, in einem kleinem Auto mit Arvid auf dem Schoß. Unterwegs übernachten können wir nicht, jeder Tag zählt.
Als wir an Puerto Montt vorbeifahren stehen Menschen auf der Autobahn. Ein Fahrstreifen ist durch quer gestellte Lastwagen blockiert. Die Fischer wollen die Regierung auf ihre miserable Lage aufmerksam machen. Das warme Wetter und der anhaltende El Nino haben zu einer extremen Ausbreitung von Algen geführt. Einige dieser Algen befallen Muscheln und andere Krustentiere, und sind für Menschen absolut tödlich. Wer befallene Muscheln isst, stirbt. Die Fischer können auf ihren alten Fanggründen nichts mehr ernten. Sie kommen alleine nicht über die Runden und hoffen auf Hilfe der Regierung. Die Regierung hilft aber lieber den internationalen Konzernen, die vor der Küste Chile extensiven Fischzucht betreiben und die aus sicht der Fischer mitverantwortlich für die Misere sind. Wegen der gleichen Probleme haben die Konzerne Millionen an Fischen in den Fischzuchtbecken verloren. Die einfachen Fischer haben für die Finanzhilfe der Regierung kein Verständnis und blockieren komplett den Zugang zur Insel Chiloe. Sowohl die Straßen als auch die Hafen sind gesperrt. In Dalcahue verbrennen die Fischer aus Protest zwei Tage lang Reifen. Es stinkt bestialisch, hilft aber nicht viel. Fischer haben keine so wirksame Lobby bei der Regierung wie die internationalen Konzerne.
Als wir nach 13 Stunden Fahrt in unserem Hotel in Santiago ankommen sind alle fix und fertig. Bevor wir am nächsten Morgen zum Konsulat gehen können, müssen wir zuerst neue biometrische Bilder besorgen. Auf den letzten ist Arvid keine zwei Jahre alt, das wird so wohl nicht durchgehen. Wir suchen im Internet einen Photographen, der laut seinen eigenen Angaben weiß, was die deutschen Behörden unter dem biometrischen Bild verstehen. Pünktlich zur Ladenöffnung stehen wir da. Aber wer in Südamerika ist schon pünktlich? Wahrscheinlich nur die Menoniten in der Chacowüste… Eine halbe Stunde später ist der Laden immer noch vergittert. Also Plan B – nächster Photoladen ein paar Blocks weiter. Dieses Mal klappt es.
Während die Kinder am nahe gelegenen Spielplatz spielen, schlendert Natalya durch die Einkaufspassage, in dem sich auch der Photoladen befindet. Die Anlage heißt Pueblo de Ingles und macht dem Namen alle Ehre. Die Waren sehen so aus, als ob sie noch aus der Kolonialzeiten stammen und für diejenigen bestimmt sind, die auch am anderen Ende der Welt ganz genauso leben wollen, wie englische Ladys and Gentlemen im vorletzten Jahrhundert.
Die Bilder sind schnell fertig, das Konsulat problemlos gefunden. Mangels Andrangs kommen wir fast sofort dran, und nach einer guten Stunde ist das Thema erledigt. Jetzt kann man nur hoffen und bangen. Die Pässe müssen in der Bundesdruckerei in Berlin angefertigt werden und über den Ozean zu uns kommen. Da haben wir schon einige Erfahrungen, was für verschlungene Wege so eine Post nehmen kann …
Jetzt haben wir Zeit und können Chiles Hauptstadt in aller Ruhe entdecken. Arvid möchte als erstes den ganzen Weg zum ersten Photoladen zurück. Da hat er im Schaufenster nebenan einen tollen Bus gesehen. Der wurde ihm auch versprochen, falls er brav beim Photographieren mitmacht. Arvid hat es nicht vergessen und lässt nicht locker: er möchte kein anderes Auto, nur diesen Bus. Das nennen wir gutes Duchsetzungsvermögen!
Am Nachmittag gehen wir auf Entdeckungsreise durch die Innenstadt. Nach vielen Monaten in absoluter Abgeschiedenheit mitten in der Natur wirkt eine Stadttour wie eine Kontrastdusche. Es ist von allem so viel: Straßen, Autos, Menschen, Häuser, auch prächtige Häuser. Als wir an einem Bankgebäude vorbei gehen, kommentiert Franka: „Dieser Bank kann drinnen nicht viel Geld haben. Sie haben alles für draußen ausgegeben!“
Wir schlendern weiter durch die Straßen, bis zum historischen Platza de Armas mit einer großen Katedrale. Die Kirche ist zwar groß und prächtig, will aber nicht besonders in Erinnerung bleiben. Kaum dreht man sich weg, ist die Erinnerung schon verschwunden.
Am Morgen entdecken wir die nächste Protestaktion. Dieses mal sind es Taxifahrer, die gegen eine laut ihrer Meinung nachteiliger Gesetzänderung demonstrieren. Hunderte von Autos stehen dicht an dicht und blockieren für mehrere Stunden die Hauptverkehrsader der Stadt in beide Richtungen. Wir laufen an ihnen vorbei zum Präsidentenpalast La Moneda. Hier wurden Präsident Allende und ihm loyale Regierungsmitglieder von den Pinotschetstruppen beschossen. Das Gebäude ist großräumig umzäunt und wird streng bewacht.
Auf den ersten Blick ist keine Gedenktafel oder ein Denkmal zu sehen. Die Fassade ist makellos wieder aufgebaut, eine gewaltige Flagge weht vor dem Palast. Etwas abseits findet man doch eine Gedenkstatue gewidmet Salvador Allende, aber auch hier ohne Erwähnung der Todesumstände. Die Taktik des Verschweigens kennen wir schon seit Brasilien, über unschöne Seiten wird weder berichtet noch geredet. Auch in dem historischen Museum von Santiago sieht man lebensgroße Ölgemälde von Pedro de Valdivia auf dem Pferd oder Bernardo O’Higgins auf dem Schlachtfeld. Dem hässlichen Teil der modernen Geschichte Chiles ist nur eine klitzekleine Wand in der hintersten Ecke des Museums gewidmet.
Wir verbringen noch einige Tage in Santiago ohne ein besonderes Ziel zu haben und erleben die Stadt als grün, sanft und angenehm. Unser Hotelfenster hat Blick auf die schneebedeckten Andengipfel, die im Halbkreis die Stadt umschließen. Wären es nicht die verheerenden Erdbeben, die die Stadt regelmäßig heimsuchen, wäre es für uns eine der attraktivsten Städte der Welt. Vor allem die Menschen, die ihren Kontakt zu einander und ihr natürliches Verhalten noch nicht gegen Distanziertheit und Gleichgültigkeit eingetauscht haben schließt man schnell ins Herz. Was würden manche Europäier sich aufregen, wenn früh am Morgen die Hauptverkehrsstraße durch eine Demo blockiert wäre! Die Chilenen bleiben dabei gelassen, ohne gleichgültig zu werden. Sie quatschen mal kurz, mal lang mit den demonstrierenden Taxifahrern übers Leben und steigen in die U-Bahn oder gehen zu Fuß weiter. Keiner schreit, keiner drängt. Die U-Bahn ist voll, aber auch hier wird nicht geschimpft.
Unsere Kinder sind von den Menschenmengen in der U-Bahn zur Rushhour deutlich beeindruckt. Sowohl die Züge als auch die Plattformen sind voll. Vom Sitzplatz für die Kinder ist keine Rede, wir sind schon glücklich wenn wir alle zusammengequetscht rein passen. Thomas erinnert sich mit Sehsucht an seine Zeit in Moskau und an das wesentlich heftigere Gedränge in der dortigen U-Bahn. Gemeinsam ist der zwei Städten auch, dass manche Stationen wahre Kunstwerke sind und schon an sich sehenswert sind. Außerhalb der Hauptverkehrszeiten trifft man in der U-Bahn auf viele Musiker, die dort eine Ergänzung zu ihrem Lebensunterhalt verdienen. Warum kann man es sich nicht vorstellen, dass in Deutschland eine Gruppe Musiker in eine S-Bahn einsteigt und ein paar Stationen mitfährt um eines ihrer Musikstücke vorzuführen?