(09.05.2016 – Tag 718 – 12.939 sm)
Die Zivilisation in Chiloe brachte ihre Vorteile mit sich. Voller Freude und Eifer buchten wir während unseres kurzen Aufenthalts in Queilen einen Flug nach Deutschland für sechs Personen, natürlich die günstigste Variante mit 3 Mal umsteigen. Die Kinder freuen sich riesig und wollen die gleiche Ferienwohnung haben wie im letzten Jahr. Wie schön sich alles zusammenfügt! Sie ist für die ganzen sechs Wochen durchgehend frei, daher wird auch hier schnell gebucht. Noch ein Familienauto für sechs Wochen dazu mieten, dann sind die Vorbereitungen erledigt.
Wieder mitten in Nirgendwo blättert Natalya in den Revierführern für unsere Segelziele und stößt auf das winzige Inselland Tuvalu. Da unsere Kinder keine biometrische Pässe haben, sondern nur Kinderausweise, dürften sie dort gar nicht einreisen. Irgendwas kribbelt im Unterbewusstsein … Wie war es denn? Da gab es doch noch ein Land mit der gleichen Regelung? und das ist die USA! Unsere Flüge haben genau dort einen Zwischenstopp. Wir haben für sechs Personen einen nicht zurückerstattbaren Flug quer durch die Welt gebucht, den wir gar nicht wahrnehmen können!? Wir können es kaum glauben und hoffen, dass wir es doch gerade biegen können. Hier im Estero Cahuelmo können wir nichts tun, kein Mobilfunk, kein Internet!
Die Zeit drängt, daher entscheiden wir uns gegen den Estero Quintupeo und wollen auf dem kürzesten Weg nach Puerto Montt segeln. An einem sonnigen Vormittag gehen wir Anker auf. Auf dem Weg aus dem Estero Cahuelmo entdecken wir eine riesige Seelöwenkolonie. Hunderte, wenn nicht gar über Tausend Tiere liegen dicht aneinander gedrängt auf der steilen Küste im Schatten der Bäume. Kein Wunder, dass wir sie beim reinfahren nicht entdeckt haben. Wer erwartet schon Seelöwen unter den Bäumen? Ganz nah, bis auf wenige Meter tasten wir uns mit der Outer Rim heran, um die Tiere zu beobachten. Viele Jungtiere sind dabei. Offensichtlich geht es der Kolonie trotz El Ninos und der damit verbundenen Schäden ganz gut. Widerwillig drehen wir nach einer Weile ab und fahren weiter. Es geht nach Norden am Ostufer der Insel Llancahue entlang.
Vor der Einfahrt zum Estero Quintupeo entscheiden wir, dass wir doch kurz in den Fjord hineinschauen wollen. Die Einfahrt ist eng, an beiden Seiten heben sich steile Wände. Die letzten Wolken lichten sich. Das ganze Südufer des Fjordes erstrahlt im Sonnenlicht. Eine knappe Seemeile in den Estero hinein ändert Thomas den Kurs um 180°, um wieder heraus zu fahren. Natalya geht unter Deck und kümmert sich um das Mittagessen. Thomas hadert lange mit sich. Die Landschaft hier erscheint einfach zu schön, um ihr einfach den Rücken zu kehren. Kurze Diskussion mit dem Bordvorstand … nach fünf Minuten kommt die nächste Kursänderung. Wieder 180°, und wir fahren doch der Sonne entgegen bis zum Kopf des Fjordes herein. Schließlich ist das die letzte Möglichkeit hier zu weilen!
In diesem Fjord fand auch ein kleines Kapitel deutscher Geschichte statt. Die SMS Dresden, eines der damals letzten Schiffe der Kaiserlichen Marine, suchte hier 1915 längere Zeit Schutz vor seinen britischen Verfolgern. So einsam und uneinsehbar der Estero ist kann man das auch gut verstehen. Wie müssen sich die Matrosen wohl gefühlt haben? In einer solch umwerfenden Landschaft vor den Feinden zu zittern? Letztlich wurde das Schiff einige Wochen später auf der Insel Robinson Crusoe vom Kommandanten selbst versenkt.
Beim Ankern im Estero Quintupeu man den gewaltigen Tidenhub berücksichtigen. Wir sind bei Hochwasser angekommen. Wer in 10 Metern beim Flut ankert, liegt bei Ebbe auf dem Trocknen (was uns dann tatsächlich fast passiert wäre, wenn wir nicht in der Nacht noch etwas Kette aufgeholt hätten). Die gesamt Crew steigt ins Dinghy und fährt in einen kleinen Fluss hinein, der aus dem Kopf des Fjordes heraus sprudelt. Bei Hochwasser ist dieser gerade noch navigierbar: einige massive Felsbrocken liegen im Weg. Wir schalten den Motor aus, und lassen die Strömung uns zurück tragen. Als wir unter einem großen Laubbaum gleitet, ergießt ein Goldregen an gelben Blättern über uns. Der Herbst ist deutlich im Anmarsch.
Am Abend zünden wir unser letztes Lagefeuer an. Holz gibt es mehr als genug. Unsere Kinder waschen die Kartoffeln und wickeln sie ein. Arvid spielt am Wasser. Schon im völligen Dunkelheit, als die die Kinder schon im Bett sind, brät Natalya Kastanien. Wie immer ist eine Hälfte roh, die andere verbrannt. Schmeckt trotzdem – unter sternenklarem Himmel in einer lauen Herbstnacht in Patagonien.
Als wir am nächsten Morgen aus dem Fjord rausfahren, ist die Sonne weg. Alles ist in geheimnisvollen Nebel gehüllt. Was für ein Glück wir gestern mit dem Wetter hatten! Thomas steuert die Outer Rim bis auf weniger Meter nah an einen mächtigen Wasserfall heran. Die Wände des Fjordes fallen hier so steil ab, dass wir wahrscheinlich problemlos auch unter dem Wasserfall hätten stehen können. Vor dem engen Einfahrt drehen wir uns voller Wehmut noch mal um, allerdings dieses Mal ohne Kurs zu wechseln. „Patagonien ade!“