(25.06.2017 – Tag 1.099 – 22.222 sm)
Die Überfahrt von Niue nach Tonga wird zu einer der schnellsten in den bisherigen vier Jahren unserer Reise. Selbst ohne mitlaufende Strömung, nur mit frischen Passatwinden auf Vorwindkurs, erreichen wir Geschwindigkeiten über 9 Knoten und knacken mühelos die 200 Meilen Marke für das Tages-Etmal. Die Welle bleibt mit 3 bis 4 Metern erträglich. Als die Outer Rim einmal in voller Fahrt in ein besonders tiefes Wellental saust, zeigt die Geschwindigkeitsanzeige für einige Momente 15 Knoten Fahrt über Grund an. So brauchen wir für die 250 Meilen gerade mal 33 Stunden inkl. An- und Ablegemanöver.
Als wir an einem verregneten, grauen Nachmittag nach Nieaufu einlaufen, ist es nach unserer Rechnung Donnerstagnachmittag. Ein freundlicher Segler heißt uns per Funk willkommen und spornt uns zur Eile an. Morgen ist Samstag, und dann kostet das Einklarieren exta. Ohne es zu ahnen, haben wir auf dem Weg nach Tonga die Datumsgrenze überschritten auch wenn das Land westlich des 180. Längengrades liegt. Das ist schon ein bizarres Gefühl, einen Tag verloren zu haben.
Für die Einklarierungsprozedur müssen wir an einen urig aussehenden Betonsteg mit äußerst Yacht-unfreundlichen großen Gummipuffern längsseits gehen. Keine Möglichkeit, ordentlich abzufendern. Als erstes erscheint ein Beamter der Quarantänebehörde und erkundigt sich, ob wir Obst und Gemüse haben. Natalya fängt an sich Sorgen über die zwei Dutzend frischen Eier im Kühlschrank zu machen. Wir geben zu, dass wir genug Frisches im Kühlschrank haben, aber das interessiert den Mann nicht weiter. Er bleibt im Cockpit und schaut nicht mal in den Kühlschrank.
Als wir die Einreisepapiere ausfüllen, müssen wir angeben, wieviel Alkohol wir an Bord haben. Hat man mehr als 2 Liter pro Erwachsenen, muss man Importgebühr zahlen. Nein, haben wir nicht: Eine volle Bilge Bier, Wein und das Gesöff, das wir in Chili gekauft haben um damit Tauschhandel mit Fischern zu treiben, zählen wir nicht zum Alkohol. Rum und Wiskey haben wir nicht. Aber auch das ist allen egal, keiner prüft nach, wie viel wir tatsächlich haben. Thomas arbeitet sich durch einen zentimeterdicken Stapel Papiere durch, füllt mindestens fünf Mal an unterschiedlichen Stellen die Crewliste aus. Nach einer Stunde sind alle Formalitäten abgeschlossen. Währenddessen hat Natalya schon den am Hafen liegenden Markt erkundet und frischen Salat für den Abend und Fisch für morgen besorgt.
Wir verlegen an eine der Mooringe. Sie sehen zwar bei weitem nicht so vertrauenwürdig wie auf Niue aus, müssen aber auch in diesem durch sanfte Hügel gut geschützten Hafen nicht so viel aushalten. Nominell sind sie für 20 Tonnen-Schiffe ausgelegt. Das wird bei leichtem Wind auch für unsere 29 Tonnen ausreichen. Zur großen Freude unseren Großen entdecken wir unter den Mooringliegern ein Kinderboot, deren Blog wir schon vor Wochen gelesen haben. Da wollen wir am nächsten Morgen gleich vorbeischauen.
Spät am ersten Abend stehen wir ganz fasziniert an der Reling und leuchten mit Taschenlampen ins Wasser. Um uns herum schwimmen tausende von weißen Quallen durch das Wasser. Es ist ein faszinieres Schauspiel wie die Nessetiere lautlos und gemächlich und mit gelegentlichen Kontraktionen an uns vorbeiziehen. Scheinbar treibt die Flut diesen Quallenteppich in die Bucht von Neiafu. Uns verleidet es etwas das Baden.
Das kleine, am Rande der befahrenen Routen liegende Königreich Tonga, behielt im Gegensatz zu den meisten Inselkulturen des Südpazifiks immer seine Unabhängigkeit. Zur positiven Seiten dieser geschichtlichen Entwicklung gehört die Bewahrung der traditionellen Lebensweise, die sich über Jahrhunderte kaum verändert hat. Doch auf die wirtschaftliche Entwicklung hatte die Abwesenheit einer Kolonialmacht scheinbar einen eher negativen Effekt. Obwohl Tonga nicht ganz so abgeschieden liegt wie manche andere pazifische Staaten, gehört es zu den ärmsten Ländern der Welt.
Als wir am Samstag zum ersten Mal in Neiafu an Land gehen, kommen Erinnerungen an unsere Monate in Afrika hoch. Heute ist ein großer Markt angesagt. Rostige, zerbeulte Autos bringen ganze Familien der Dorfbewohnern aus dem Umland. Traditionen hin oder her: das „westliche“ Gemüse ist auch unter lokalen Hausfrauen heiß begehrt. Während Yamswurzeln und Taro im großen Mengen angeboten werden und kaum jemanden zu interessieren scheinen, sind Blattsalat und Blumenkohl eher Mangelware und werden unter Einheimischen oft unter der Theke gehandelt. Mit ein wenig Glück gelingt es uns einen Blumenkohlkopf aus den frisch gelieferten Kisten zu ergattern. Dabei sind die Preise zwar nicht so horrend wie in französisch Polynesien, aber alles andere als günstig.
Die Verkäuferinnen auf dem Markt scheinen ausnahmslos grundehrlich zu sein und versuchen nicht Profit auf Kosten der angeblich reichen Seglern zu machen. Sowohl für die Einheimischen als auch für die Weißen – für alle gilt der gleiche Preis. Gewogen wird eher nicht. Wie in Afrika wird Gemüse in annähend gleichmäßige Portionen aufgeteilt und dann zu einem festen Preis verkauft. Kauft man an einem Stand ein bisschen mehr, bekommt man als Bonus ein Geschenk. Als Arvid an einem Stand anfängt zu jammern, dass die bösen Eltern ihm keine weichen, überreifen und winzige Tomaten kaufen wollen, bekommt er von der Marktfrau mit den Tomaten eine Banane geschenkt, obwohl wir bei ihr gar nichts gekauft haben. Neben der Markthalle singt ein kleiner Chor unter der Leitung eines Priesters a cappella Kirchenmusik. Am Samstagnachmittag erledigen wir schnell die letzten Besorgungen, denn morgen ist Sonntag, und sonntags geht in Tonga gar nichts, außer Kirchenbesuch und Familienzeit. Alle Läden, selbst die chinesischen, sind geschlossen. Auch Dinghyfahren oder Baden sind nicht erwünscht.
Wo die Kolonialmächte keinen Erfolg und/oder kein Interesse hatten, haben die christlichen Missionare einen berauschenden Sieg. Die überwiegende Mehrheit der Tongaer sind aktive Christen. Der sonntägliche Besuch der Kirche ist für alle Pflicht. Wir entscheiden uns für den Besuch einer Free Wesleyan Church, einer Methodistenkirche. Nach dem Frühstück wird erstmal improvisiert. Nach jahrelangem Aufenthalt an Bord sind wir nicht wirklich auf den Besuch einer konservativen Kirchengemeinschaft vorbereitet – kurze Hose und ausgewaschenes T-Shirt ist hier nicht angebracht. Natalya funktioniert ein knielanges Kleid in einen knöchellangen Rock um. Arvids Kopf passt nur mit Mühe durch den Ausschnitt seines Poloshirts. Glücklicherweise gehören feste Schuhe nicht zu den Anforderungen, sonst hätten wir auf den Kirchenbesuch verzichten müssen.
Fast alle Tongaer in der Kirche sind traditionell bekleidet. Die Männertracht besteht aus einem klassischen Hemd, schwarzen Sakko und einer Krawatte und einem bodenlangen dunklen Wickelrock. Manche tragen Schlappen, einige sind barfuß. Die Frauen tragen prächtige, aber konservative Kleider. Ihr langes, schwarzes, dichtes Haar ist zu aufwändigen Frisuren hochgesteckt. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen gehört eine aus Bastfasern gewobene und um die Hüfte gebundene Matte als Abschlussdetail zu der Garderobe. Sie wird nicht nur für die Kirche, sondern zu allen festlichen Anlässen getragen. Kleinen Mädchen werden glänzende, reich mit Rüschen und Pailletten verziehrte Prinzessinnen-Kleider chinesischen Fabrikats angezogen. Selbst manche Zweijährige laufen mit Stöckelschuhen.
Der ganze Gottesdienst wird auf tongaisch abgehalten, wovon wir nichts verstehen können. Die Sprache ist so vokalreich wie alle polynesischen Sprachen und eignet sich somit perfekt zum Singen. Als die gesamte Gemeinde in der übervollen Kirche das erste Lied anstimmt, ist der Moment überwältigend. In dem Gesang erkennt man nichts Einstudiertes, alle singen frei und ungezwungen, und dennoch hört man keine einzige falsche Stimme. Ihr harmonischer, weicher Gesang würde locker eine große gotische Kathedrale füllen. Die Predigt des Priesters erscheint dagegen eher uncharismatisch, wobei wir ohne Sprache das Inhatliche natürlich nicht beurteilen können.
Arvid dauert der Gottesdienst viel zu lang, doch dafür haben alle Verständnis. Kleine Kinder dürfen gehen und kommen wann sie wollen, ihre Eltern ernten keine bösen Blicke. Da es in der Kirche viel zu heiß ist, werden einige Stühle draußen aufgestellt. Man passt besonders gut auf, dass wir als Gäste einen Sitz finden. Kaum nähert sich Natalya, die ab und zu mit Arvid raus geht, einem Stuhl, springt schon jemand auf, um ihr einen Platz anzubieten.
Schon während des Gottesdienstes fällt uns eine Frau auf, die seitlich vom Altarraum auf einem von zwei prächtig geschmückten Stühlen sitzt. Später machen dann einige Gottesdienstbesucher der Dame, neben der immer ein Leibwächter steht, ihre Aufwartung. Durch ihr blässlich geschminktes Gesicht und ihre maskenhafte Mimik sticht sie von den normalen Gottesdienstbesuchern hervor. Später erfahren wir, dass es die Prinzessin von Tonga ist. Sie hat wohl in der Kirche ihren Stammplatz.
Nach dem Gottesdienst laufen wir durch eine Geisterstadt zu unserem Boot. Alle Läden und Geschäfte sind geschlossen. Es sind jedoch schon viele Zäune und Häuser geschmückt, und ab und zu läuft eine kleine Gruppe Soladaten oder eine Kapelle durch den Ort. In eine paar Tagen wir der Geburtstag des Königs gefeiert. Da will man vorbereitet sein.
Die Kinder verabreden sich auf dem Rückweg mit Paolo und Raquel von Pesto zum Spielen und verschwinden nicht nur für den Rest des Tages, sondern auch für das Abendessen. Die Freude etwa gleichaltrige Kinder zu treffen, die dazu noch englisch sprechen und die gleichen Spiele mögen, ist groß. Kinder-Aktivitäten prägen die nächsten Tagen. An manchen Nachmittagen sammeln sich bis zu acht Kindern auf Pesto zum Spielen. Natalyas Versuche, die Kinder in die Stadt zu locken, scheitert. Irgendwann Mal reicht es an exotischen Erlebnisen. Sie bleiben lieber an Bord und spielen Risiko.