(20.06.2017 – Tag 1.095)
Nach drei Tagen auf See freuen wir uns auf unseren ersten Landgang auf Niue. Schon als wir noch viele Meilen von der Insel entfernt waren trug der Wind den Duft von Wald und üppiger Vegetation in unsere Nasen. Jetzt drängen wir darauf, dies hautnah zu erleben. Aber vorher sind einige Hürden zu nehmen.
Zuerst dürfen wir als Morgensport von unserer Mooring bis zum Dinghy-Steg eine halbe Meile auf polynesische Art mit dem Dinghy paddeln. Der Motor streikt völlig und startet nicht; die Zeit, um die auf Suwarrow abgerissene Ruderdolle zu kleben, fanden wir auch noch nicht. Nur gut, dass sich der Seegang im Grenzen hält. Am Steg müssen wir das Dinghy aus dem Wasser heben. Der dafür installierte Kran stößt bei unseren Kindern auf Begeisterung. Arvid würde gerne ein paar Dutzend mal das Schlauchboot einfach hoch und runterkranen. So ein tolles ferngesteuertes Spielzeug hat er eher selten.
Das Einklarieren funktioniert ganz problemlos in der Nähe des Anlegers in einer Lagerhalle des Zolls. Es sind wieder die üblichen unendlich langen und redundanten Formulare auszufüllen. Nachdem es in der Lagerhalle keine Sitzgelegenheiten gibt, stellen die netten Beamten schnell aus zwei alten Stühlen und einer unbehandelten Spanplatte einen improvisierten Tisch zusammen. Nach einer halben Stunde ist der Papierkramm erledigt und wir dürfen offiziell an Land.
Wir erkundigen uns auch gleich nach einem Mechaniker für unseren kränkelnden Dinghy-Motor. Angeblich gibt es hier sogar einen Mechaniker, doch irgendwie ist er unauffindbar. Später erfahren wir auch, dass er neben Außenbordern auch Kühlschränke und alles andere repariert sowie Fisch und Recycling-Materialien verkauft. Vermutlich kann er uns dann auch nicht weiter helfen. Entweder findet Thomas den Fehler selbst – oder wir dürfen weiter rudern.
Wir laufen auf der deutlich überdimensionierten Hauptstraße von Alofi zum kleinen Shopping-Center. Wobei diese Bezeichnung für die zehn kleinen Läden auch deutlich übertrieben ist. Während viele Staaten mit unkontrolliertem Bevölkerungswachstum und Landmangel kämpfen, wird Niue in den letzten dreißig Jahren mit deutlichem Bevölkerungsschwund konfrontiert. Der Bau des Flughafens in den 70ern hat eine Auswanderungswelle losgetretten. Viele junge Menschen verlassen ihre Heimat, um sich in Neuseeland niederzulassen. Da sie trotz der formellen Unabhängigkeit Niue eine neuseeländische Staatsbürgerschaft besitzen, stellt die Auswanderung rechtlich kein Problem dar. Während Niue weniger als zwei Tausend Einwohner zählt, leben in Neuseeland etwa zwanzig Tausend Niueaner. Zweimal die Woche bringt ein Flugzeug aus Auckland zu Besuch anreisende Familienmitglieder.
Eine schnelle Inspektion der Läden ergibt ein Preisniveau, dass das der Gesellschafftsinseln locker übersteigt. Eigenes Geld hat Niue nicht, alle Geschäfte werden in neuseeländischen Dollars abgewickelt. Wir schlendern weiter, schauen an einem menschenleeren Markt (die Hoffnung aufs lokales Gemüse stirbt zuletzt) und bei der Touristeninfo vorbei. Im Yachtclub dürfen wir uns in ihr Gästebuch eintragen. Bezahlt wird die 10 Euor Mooring-Fee erst beim Ablegen. Die Hoffnung auf eine gute Internetverbindung lebt auch nicht lange. Es gibt hier zwar Wifi, aber so langsam, dass die Emails nur tröpchenweise übermittelt werden. Weil die Insel für einen Atoll überraschend groß ist und keine öffentliche Verkehrsmitteln besitzt, reservieren wir und für die nächsten Tagen ein Auto.
Nach einiger Zeit in Atollen mit kleinen flachen Inselchen, deren Perimeter innerhalb von einer Stunde abgelaufen werden kann, haben wir wieder Lust auf Wandern durch einen Wald. Wir lassen unseren Mietwagen am Straßenrand stehen und laufen einen 8 km langen Wanderpfad. Das erste Drittel des Weges ist eher weniger attraktiv und führt durch Felder und gerodete Flächen. Weil die Korallenböden nicht wirklich fruchtbar sind, müssen die Felder immer wieder auf neu gerodete Areale umziehen. Die alten werden der Natur zur Regeneration zurück gegeben und sind ziemlich schnell von buschartiger Vegetation überwuchert. Viel kann die Landwirtschaft hier nicht einbringen, nur gerade so viel, dass es für eigenen Bedürfnisse reicht.
Der weitere Weg führt durch einen dichten Dschungel. Man würde nicht erwarten, dass auf einem steinigen Korallenboden prächtige, etwa 20 Meter hohe Bäume gedeihen können. Mehr noch, im Gegensatz zu vielem von Menschen Errichtetem zeigt der Wald kaum Zyklonschäden. Für die heimische Bevölkerung ist ein Teil des Waldes nicht weit unseres Weges ein heiliges Gebiet, das auch heute noch ohne Erlaubnis nicht betreten werden darf, dort wird auch nicht gerodet und natürlich erst recht keine Landwirtschaft betrieben.
Der tief in den durchlässigen Boden einsickernde Regen wäscht über Jahrtausende selbst im Wald kleine unterirdische Höhlen aus dem Gestein. Früher wurden sie von den Insulaner als kühle Lagerstätten genutzt. Uns sind während unserer Wanderung nur ein paar Krater im Waldboden zugänglich, die auf die unterirdischen Höhlen hinweisen.
Nach 8 Kilometern ist Arvid ziemlich geschafft. Der Weg ist kein Rundweg, und das Auto steht am Anfang des Weges. Während Natalya mit den Kindern am Straßenrand wartet, will Thomas unser Auto holen. Über die Straße sind es ca. 6 km Fußmarsch. Nach frustierenden Erfahrungen mit Fahren per Anhalter auf den Gesellschaftsinseln und fast leeren Straßen haben wir so gut wie keine Hoffnung, dass ihn jemand mitnimmt. Doch wider Erwarten kommt Thomas nach weniger als einer halben Stunde schon wieder zurück. Das erste Auto hat ihn nicht nur einfach mitgenommen, sondern ist extra für Thomas umgekehrt und hat einen erheblichen Umweg gefahren. Nur konnte die Frau nicht verstehen, warum man aus freien Stücken 8 Kilometer im Wald laufen will.
Auf dem Weg zu einigen an der Küste zu Fuß zugänglichen Höhlen schläft Arvid ein. Vsevolod bleibt freundlicherweise beim schlafenden Bruder im Auto, während wir einen kurzes Stück bis zur Treppe, die tief in die Höhle führt, laufen. Die Sonne steht relativ tief und an so was Nützliches wie eine Taschenlampe haben wir leider nicht gedacht. Wir tasten uns vorsichtig von einer Stufe zur nächsten, am unteren Ende fast in vollkommener Dunkelheit. Der Weg endet im Wasser. Das Informationsschild am Anfang des Pfades erklärt zwar, dass Baden und Schnorchel hier erlaubt sind. Wir haben aber nicht wirklich Lust in einer dunklen, unbekannten Höhle baden zu gehen.
Nachdem sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehen wir wie klar dieses Wasser ist. Bedingt durch landschaftliche und geologische Besonderheit, fließt das Regenwasser auf Niue nicht direkt in den Ozean sondern sickert erstmal tief in den Boden hinein. Dort wird es jeglichen Sedimentes beraubt. Was bis zum Meer durchsickert ist absolut klar. Deswegen können wir selbst an unserem Ankerplatz in 30 Metern Tiefe bei Windstille jeden Stein klar und deutlich auf dem Grund sehen.
Am nächsten Tag schnorcheln wir bei den Lima Pools. Früher war diese klitzekleine Bucht, die fast vollständig von der Brandung abgeschützt sind, dem König und den Seinen vorbehalten. Heute darf jeder hier baden, obwohl Baden am Sonntag – genauso wie woanders auf der Insel – nicht erwünscht ist. Da uns eh keiner sieht, gehen wir trotzdem ins Wasser. Wenn man sich aus den eigentlichen Pools ein Stückchen nach draußen durch die Brandung durcharbeitet, entdeckt man eine große Vielfalt an Korallen. Trotz der brechenden Wellen oben ist die Sicht klar. Die Mittagssonne lässt die Korallen intensiv leuchten. Viele Rifffische tümmeln sich hier. Natalya fühlt sich ohne Floßen in der Brandung nicht so sicher und kehrt wieder zu den Kindern zurück, aber Thomas hält lange aus.
An diesem Tag erforschen wir noch eine Höhle. Dieses Mal ist der Weg länger. Der Pfad windet sich relativ nah am steilen Ufer. An manchen Stellen muss Arvid an der Hand gehen, aber meistens will unser großer Entdecker ganz vorne laufen, und gib ein Schreikonzert, falls ihn jemand überholt. Der Weg endet an einem imposanten Bogen am Ufer des Ozeans. Wir waten bei Ebbe über das fast trocken gefallene Riff und beobachten die Fische in den engen tiefen Kluften. Thomas arbeitet sich durchs kniehohes Wasser um von der anderen Seite ein Bild von dem Bogen zu schießen.
Damit ist die Liste der Sehenswürdigkeiten von Niue fast erschöpft. Wir fahren auf den schmalen und mit Schlaglöchern übersäten Wegen durch die Insel. Die Dörfer sind recht klein, haben von Kirchen abgesehen so gut wie keine Infrastruktur. Glaslose oder verbretterte Fenster verlassener Häuser hinterlassen einen trostlosen Eindruck. Bei vielen fehlt das Dach. Nach jedem schweren Zyklos verlassen die ihr Obdach beraubten Menschen eilig die Insel. Primitive Möbel und andere Utensilien, für die auch sonst niemand Gebrauch findet, bleiben wie stumme Zeugen des Unglücks stehen. Der letzte heftige Zyklon Heta im Jahr 2004 hat schwere Schäden auf der Insel angerichtet. Von den historischen Gebäuden wie der ersten Schule und des alten Krankenhauses, die einige Jahrzehnten überstanden haben, sind nur die Grundmauern übrig geblieben. Nicht nur die Häuser werden in Mitleidenschaft gezogen. Die Ernte der Bauern leidet schon bei weniger heftigen Unwettern. Das Leben auf dieser Insel war nie leicht.
An der Ostseite der Insel erleben wir, was einem passieren kann, wenn man an der Mooring mit Land im Lee liegen bleibt. Bei nur 25 Knoten Wind rollen mächtige Wogen aus Südost an und brechen nicht weit der Küste am Riff, verfärben sich von tiefblau ins türkis, bevor sie sich im nächsten Augenblick in ein kochendes Meer von Schaum verwandeln. Die hoch in die Luft spitzende Gischt hängt wie ein hauchdünner, nasser Vorhang an der Küste. Die Feuchtigkeit frisst sich in das relativ weiche Korallengestein der Küste und hinterlässt eine bizzare Landschaft aus spitzen Türmchen. Am Ende des Pfades ist eine Leiter angebracht, die beim deutschen TÜV wahrscheinlich keine Genehmingung für öffentliche Benutzung bekommen hätte. Das untere Ende der fast senkrecht nach unten führenden Leiter befindet sich etwa 15 Meter tiefer als die erste Sprosse. Nur gut, dass unser großer Entdecker wieder glückseelig im Auto schläft. Sonst hätte er sich so einen Spaß nur schwer ausreden lassen.
Unten befindet sich ein kleiner, auf bizzare Weise durch eine mehr als 20 Meter hohe Wand aus Felsen vom Meer komplett abgetrennter Sandstrand. Ein paar dürre Palmen, die schon bessere Zeiten gesehen haben, ergänzen die Landschaft. Schwere Stürme haben über die Zeit diesen ganzen Sand über die so unüberwindbar und sicher scheinende Felswand hinein geweht.
Zurück im Hafen rätseln wir über ungewöhnliche Aktivitäten im Mooringsfeld. Die Superyacht, die die letzten zwei Tage neben uns gelegen hat, liegt jetzt weiter draußen vor Anker, und an ihrer urspünglichen Mooringsboje basteln zwei Taucher herum. Auf die Nachfrage im Segelclub erfahren wir, dass die etwa 200 Tonnen schwere Yacht selbst bei leichtem Wind die für 30 Tonnen ausgelegte Mooring locker hinter sich gezogen hat, zum Glück bei ablandigem Wind. Jetzt liegt die Yacht vor Anker, und die Mooring 5 Meter unter Wasser. Das liebe Mädchen von Yachtclub, das der Yacht angeboten hat jede beliebige Mooring zu benutzen, ohne auf die 200 Tonnen einzugehen, darf jetzt nicht mehr das Funkgerät benutzen.
Ohne Auto ist auf der Insel nicht viel zu machen. Unsere Kinder spielen ein Mal Minigolf auf einer Anlage, die mit Sicherheit einen der besten Aussichten der Welt besitzt. Man darf nur nicht zu hart auf den Ball schlagen, sonst fällt der Ball von den Klippen ins Meer. Wir gehen Essen zum lokalen Inder. Es schmeckt allen, obwohl die Bedingung nicht weiß, was Vindaloo ist.
Unsere Kinder spielen noch am Strand mit den zwei Jungen von einem norwegischen Katamaran, seit langem wieder ein Kinderboot. Sie hätten gerne mehr Zeit mit ihnen verbracht, aber die Geschwindigkeit der Norweger – in zwei Jahren um die Welt – liegt weit oberhalb unseren gemächlichen Tempos. Ihr Weg führt von Niue direkt nach Fidschi. Wir plannen mindestens mehrere Wochen in Tonga zu verbringen. Obwohl immer noch kein Westwind in Sicht ist, der uns von der Insel vertreiben würde, verlassen wir Niue. Es gibt in einer relativ kurzen Pazifiksaison so viel zu sehen!