(11.03.2017 – Tag 994)
In ganz französisch Polynesien gibt es einen einzigen Hochseehafen, und zwar in der Hauptstadt Papeete auf Tahiti. Nur hier kommen importierte Waren an, und das sind fast alle Verbrauchsgüter und eigentlich alle Investitionsgüter – von Milch und Mehl über Nudeln und Kleidung bis Computer und Autos und natürlich Treibstoff. Praktisch alles, was die Menschen hier neben Kokosnüssen, Eiern und Früchten brauchen, wird aus dem Ausland beschafft. Die Waren kommen per Frachter in Papeete an und werden dann auf kleinere Versorgungsschiffe verladen, die dann auf meist festen Touren die kleinen Inseln anlaufen. Unter oft abenteuerlichen Bedingungen werden die Waren dort entladen.
Das bekannteste und modernste dieser Versorgungsschiffe ist die Aranui, einer Mischung aus Fracht- und Kreuzfahrtschiff. Sie hat einen weit im Voraus festgelegten Fahrplan und fährt ihre Ziele alle 2 bis 3 Wochen an. In jedem Laden und an vielen öffentlichen Orten hängen die Fahrpläne. Zu wissen, wann das Versorgungsschiff das nächste Mal kommt, ist wichtig. Nur dann hat man eine Chance an frische oder seltene Produkte im Supermarkt zu kommen. Teils sind Produkte schon ein paar Stunden nach der Ankunft des Schiffes wieder ausverkauft (manchmal auch schon vor Ankunft, da Waren reserviert werden und gar nicht in den Laden kommen). Auch jeder Handwerker verweist bei Lieferzeiten auf die Aranui. Verständlich, dass Tage, an denen das Versorgungsschiff anlegt, Ausnahmetage sind.
Auch wir haben bald den Fahrplan verinnerlicht. Als wir in Taiohae liegen, sind die Supermärkte schon recht ausgeklaubt. Viele Stellen in den Regalen sind leer. In drei Tagen kommt die Aranui wieder hierher. Sollen wir warten und auf Tofu hoffen?
Bevor wir uns entscheiden können, beobachten wir am Morgen einige Dinghys, die mit Vollgas in Richtung des offenen Meeres an uns vorbei rasen. Da muss doch was zu sehen sein. Yann von SY Amarante hält auf dem Rückweg bei uns an und erzählt über eine große Gruppe Mantas, die am Ausgang der Bucht ihre Kreise dreht. Aufgeregt springen wir in unser Schlauchboot und geben ebenfalls Gas – nicht das es schon zu spät ist. Doch die Eile ist gar nicht nötig. Als wir ankommen sind die Tiere immer noch da. Erst sichten wir einzelne Tiere, dann können wir den ganzen Kreis ausmachen. Sie gleiten fast an der Oberfläche, sind aber relativ scheu und mögen das Dinghy nicht wirklich, flüchten aber nicht. Unsere Kinder halten nach alle Richtungen Ausschau, und wir versuchen uns möglichst lautlos (eigentlich ein sinnloses Vorhaben, da Arvid ja auch dabei ist) an die Tiere heranzupirschen. Thomas springt mitten im Kreis ins Wasser. Natalya ist dabei ziemlich aufgeregt: die 4-5 Meter großen Rochen sind überall, um Thomas herum und selbst unter ihm. Es wäre schön, die Maske und Schnorchel dabei zu haben, aber zum Einpacken war keine Zeit.
Die Regenzeit kündigt sich an. Hat es bis jetzt jeden Tag „nur“ ein paar mal kurz geregnet, fängt es jetzt an ausdauernd zu schütten. An einem Tag verfinstert sich der Himmel innerhalb von wenigen Minuten. Mit den dicken, schwarzen Wolken kommt auch der Wind, manche Böen überschreiten 35 Knoten. Als der Regen einsetzt, stürzen Unmengen von Wasser von Himmel herunter wie aus einer offene Schleuse. Wir sammeln Regenwasser. Bald sind nicht nur beide Tanks und alle Kanister voll, sondern auch alle Flaschen und die Karaffe. Die Kinder stellen sich unter den vom Sonnenverdeck kommenden Wasserschwall zum Duschen. Nach Wochen Hitze und Salzwasser ist die Dusche sehr willkommen. Vor allem der von Hitzepickeln geplagte Arvid freut sich über das kühle Wasser und tanzt auf dem Achterdeck im Regen.
Am Nachmittag nimmt der Wind weiter zu und wir müssen unser Sonnensegel abnehmen. Der Regen hört erst am nächsten Tag auf. Das Wasser in der sonst relativ klaren Bucht hat sich in eine braune Brühe verwandelt. Von den Berghängen stürzen zahlreiche Wasserfälle. Unzählige Kokosnüsse, Zweige und ab und zu ganze Baumstämme werden auf das Meer hinausgetragen.
Am Montag will Thomas das Segel abholen. Als die Genua wieder an Bord kommt, ist sie genauso beschädigt wie vorher. Kevin hat gar nichts gemacht. Es ist ihm eingefallen, dass für die Nähmaschine der Stoff zu dick ist, und für Handarbeit hatte er keine Lust. Und überhaupt war das Wochenende zu schön um zu arbeiten. So muss Thomas selber das Segel flicken. Hätten wir das gleich gewusst, wäre uns einiges an Arbeit erspart geblieben. Die anderen Segler erzählen uns, Kevin nehme häufig Aufträge an, die er gar nicht ausführen kann oder will.
Nachdem das Segel notdürftig repariert wieder an seinen Platz gebracht wird, verlassen wir die Bucht und segeln mit leichtem Rückenwind zur nahe liegenden Insel Ua Pou. Wir haben entschieden, nicht auf die Ankunft der Aranui zu warten. Kaum sind wir im offenen Wasser besucht uns eine große Delfinschule. Sie schwimmen lange mit uns. Die Kinder können ein Tier mit einer umgeknickten Flosse ausmachen und verfolgen seine Bewegung immer wieder.
Hatten wir uns auf den letzten Passagen über zu wenig Wind beschwert, werden unsere Gebete heute erhört. Eine Regenfront kündigt sich an. Natalya kommt mit der Idee, die Segeln präventiv zu reffen, den Niedergang hoch. Kaum fangen wir an, die Genua einzurollen, trifft schon die erste Böe mit über 20 Knoten ein. Dabei kommt der Wind genau aus der Richtung in die wir fahren wollen. Also Genua komplett weg und Fock setzen und kreuzen. Schnell ist das Meer aufgewühlt, wir stampfen hart am Wind in die Welle. Kurz vor dem Ziel besuchen uns wieder Delfine. Die Kinder meinen es sind die gleichen: das Tier mit der umgeknickten Flosse ist wieder da.
Die kleine Bucht von Hakahau auf Ua Pou ist durch einen noch kleineren Wellenbrecher geschützt. Dahinter liegen schon zwei Segler. Wir versuchen uns auch hinter dem Wellenbrecher zu verstecken, was uns nicht ganz gelingt, und hoffen dass eines der beiden bald ablegt. Nach all den Ankermanöver mit dem Heckanker auf Fatu Hiva will Natalya heute keinen Heckanker mehr ausbringen. Wer weiß ob er hält, und wo er sich verhaken kann. Dieses Mal verfolgten wir lieber das Konzept, die Bucht möglichst schnell verlassen zu können anstatt sich hier möglichst fest zu verbarrikadieren. Am Abend lichten sich die Wolken und die hinter Hakahau emporragenden Bergspitzen wirken wie die Türmchen eines Geisterschlosses im Mondlicht. Die Nacht ist ein wenig schaukelig. Als wir am nächsten Morgen sehen, dass einer der Segler ablegt, verlegen wir sofort auf seinen Platz. Jetzt sind wir komplett hinter dem Wellenbrecher. Das Schaukeln ist vorbei.
Der Hafen ist so klein, dass wir zuerst nicht glauben können, dass die Aranui mit ihren 120 Meter Länge hier am nächsten Tag anlegt. Wir hoffen, dass sie draußen ankert. Aber als wir uns den Pier, an dem heute intensiv gehämmert und gearbeitet wird, anschauen sind wir uns ziemlich sicher: Das riesige Ungetüm geht hier längsseits. Auch die Lokalen bestätigen das auf unsere Nachfrage. Wir müssen doch einen Heckanker ausbringen, um uns vom Manövrierraum der Aranui fern zu halten.
Mitten in der Nacht frischt plötzlich der Wind auf, es blitzt und donnert heftig aus allen Richtungen. Hinter dem Wellenbrecher stören uns die zum Teil heftigen Böen nicht. Wir stehen dennoch im Schlafanzug an Deck und bemerken, dass sich unser Nachbar – ein französischer Kat – deutlich Richtung Ufer bewegt. Der auflandige Wind zerrt ihn trotz der drei Anker in die Brandungszone. Sobald der Zustand des Meeres es zulässt, setzen wir unser Dinghy ins Wasser und fragen ob die Nachbarn unsere Hilfe brauchen. Sie sind ganz perplex, scheinbar hat das Gewitter sie auch aus dem Schlaf gerissen. Sie berichten uns, die Kette sei gerissen. Gemeinsam überlegen wir, wie sie sicher die Nacht verbringen können. Am Pier kann man problemlos längsseits gehen. Doch ausgerechnet Morgen kommt die Aranui und der Platz ist für sie reserviert. Thomas bietet an sie zusätzlich zu ihren zwei Heckankern noch bei uns an die Klampe zu belegen. Als das Ehepaar dann (!) anfängt ihre Kette hoch zu holen stellen sie verblüfft fest, dass der Anker doch noch dran ist. Der ist nur geslipt. Allgemeine Erleichterung!
Wir sehen aus unserem Dinghy, dass einer der beiden Heckankerleinen unter dem Rumpf liegt und nutzen unseren ganzes Französisch, um die Situation zu erklären. Obwohl wir uns sicher sind, die Crew hat uns verstanden, starten sie den Motor, kurzer Ruck, der Motor geht nicht mehr. Mit Maske, Flossen und Taschenlampe taucht der Eigner ins pechschwarze Wasser. Die kurze Untersuchung zeigt (was denn sonst?): die Leine ist im Propeller. Nachdem die Leine wieder draußen ist, werden an beide Leinen Fender gebunden und wir versuchen, aus unserem Dinghy sie davon abzuhalten, wieder in den Propeller zu gelangen. Man kann nur vom Glück sprechen, dass das Gewitter von kurzer Dauer war und das Meer jetzt so gut wie spiegelglatt ist. Das ganze Manöver dauert eine gefühlte Ewigkeit. Doch am Ende liegen alle wieder sicher, es bleibt beim kleinen Schreck.
Am nächsten Morgen werden wir von der ankommenden Aranui geweckt. Der Riese fährt in den kleinen Hafen ein. Der Vergleich mit einem Elefanten in einem Porzellanladen ist noch stark untertrieben. Keine fünfzig Meter von der Outer Rim entfernt wird das Schiff vertäut. Zwei Frauen in bunten Gewändern, mit kunstvoll geflochtenen Blümenkränzen auf dem Kopf begrüßen die Passagiere. Im ganzen Dorf herrscht allgemeine Aufregung. Obwohl für den Morgen ein Gemüsemarkt angesagt ist, findet Natalya im Dorf kein Gemüse. Keiner hat heute Zeit für so etwas. Stattdessen werden überall Tische mit lokal wirkendem, aber scheinbar ganz woanders industriell hergestelltem Schmuck aufgebaut. In der Markhalle werden Tische gedeckt.
Sobald das Schiff sicher liegt, fängt man an Container zu verladen. Die Waren werden gleich an Ort und Stelle sortiert. Von der ganzen Insel kommen Autos an, um ihre Bestellungen und Sendungen abzuholen. Hunderte von Menschen wuseln am kleinen Steg herum. Wer an Amazonservice gewohnt ist, kann sich das kaum vorstellen, dass die Lieferung, wenn es gut läuft, nichts verwechselt oder verloren geht, erst nach zwei oder drei Wochen ankommt. Hat man bei der Bestellung aus Taiti was vergessen, darf man weitere 2 bis 3 Wochen warten, bis das nächste Schiff kommt. Wobei es auf der Insel selbst außer einem eingeschränkten Sortiment an Lebensmitteln und ein paar Alltagsgegenständen nichts zu kaufen gibt.
Thomas darf auf an Bord der Aranui und macht vom höchsten Deck aus ein Foto von der Outer Rim. Leider dürfen die Kinder nicht mit. Zum Unterhaltungsprogramm der Kreuzfahrtgäste gehört unter anderem eine Tanzvorführung im Dorf, an der wir gerne teilnehmen. Vor allem Männer sind sehr eindrucksvoll tätoviert und geschmückt: mit Knochen, kleinen Schädeln und trockenem Gras. Sie tanzen mit so viel Inbrunst, dass Arvid an manchen Stellen überlegt, ob er sich nicht lieber unter der Bank verstecken sollte. Im Gegensatz zu den Männern wirken die singenden Frauen mit ihrem anmutigen Tanz sehr friedlich und sanft.
Wir unterhalten uns mit einigen deutschen Schiffsgästen. Ein Ehepaar erzählt uns, dass eine Weltreise schon immer zu ihren Träumen gehörte, doch mit dem eigenen Schiff hat es nicht geklappt. Jetzt machen sie eine kleine Runde auf einem Kreuzfahrtschiff und schauen sich die Marquesas und Tuamotus an. Die Rundreise beginnt in Taiti und dauert zwei Wochen.
Am Nachmittag sind alle Container verladen. Natalya geht zum Supermarkt und findet, dass die Käsetheke schon frisch aufgefüllt wurde und kauft einen umfangreichen Käsevorrat für die Zeit auf den Tuamotus. Manche Einheimische sind trotz des Wochenendes mit Einkaufen beschäftigt. Obwohl die Läden mit elektronischen Kassen ausgestattet sind, die eine übersichtliche Bestandführung erlauben würden, darf man nicht glauben, dass von schon am ersten Tag ausverkauften Waren das nächste Mal mehr bestellt wird. Im Gegenteil, es kann einige Wochen dauern, bis überhaupt was bestellt wird. Das System, nachdem bestellt wird, bleibt uns ein Rätsel.
Am Nachmittag findet ein Fußballspiel statt. Die Zuschauer – ganze Familien – parken ihre riesigen Pick-ups um das Fußballfeld, schützen sich vor der Sonne so gut es geht, genießen das Wochenende und schauen auf der Ladefläche des Pick-ups sitzend dem Spiel zu. Ein in der Nähe stehender Esswagen mit Grill und frischen Crepes hilft beim kleinen Hunger. Nur Bier und sonstige Alkoholgetränke darf er nicht verkaufen. Die darf man hier nicht in der Öffentlichkeit trinken.
Wer den Nachmittag nicht auf dem Platz verbringt, ist am Strand zu finden. Kleine Kinder planschen am flachen Strand, ältere Jungs suchen sich eine Ecke mit kleinen Surfwellen aus. Auch unsere Kinder haben jede Menge Spaß, werden von den lokalen Kindern trotz gewisser Sprachbarierre in ihre Spiele aufgenommen. Eine Frau am Strand will mit Natalya ihren Kuchen teilen. Die Insulaner sind so freundlich und entspannt wie es nur geht, ohne aufdringlich zu sein.
Die Kreuzfahrtgäste müssen langsam auf die Aranui zurück. Für 18 Uhr ist Ablegen geplant. Natalya ist nervös und würde am liebsten so lange am Land bleiben, bis das Schiff weg ist. Nicht dass wir an Bord sitzend von dem Ungetüm gerammt werden. Viel Platz ist ja nicht. Doch es dauert länger als erwartet, die Kinder frieren, so dass wir zurück an Bord müssen. Es ist schon dunkel als das Schiff den kleinen Hafen endlich verlässt. Ganz routiniert steuert der Kapitän das Ungetüm rückwärts aus dem Hafen. Respekt! Unsere Kinder stehen auf dem Vordeck und winken … und für die Bewohner der Insel beginnt die Uhr bis zum nächsten Schiff wieder zu ticken, im Aranui-Takt.