(13.08.2016 – Tag 784)
Obwohl bis jetzt alle unsere Versuche, die chilenisch-argentinische Grenze mit einem Mietwagen zu überqueren, aus unterschiedlichen Gründen gescheitert sind, planen wir heute eine neue Aktion. Dieses Mal sind wir perfekt vorbereitet und haben alle Papiere dabei, die uns ausdrücklich einen Grenzübergang mit dem Wagen erlauben.
Am Vorabend erkundigen wir uns im Touristenbüro, wann der Zoll aufmacht. Es gibt eine Grenzstation direkt am Ortsausgang von San Pedro, also 200 km von der eigentlichen Grenze entfernt. Die macht aber erst um 8 Uhr morgens auf. Es ärgert uns zwar, dass wir erst so spät los fahren können, aber kann man es ändern? Vor uns liegt eine lange Fahrt durch die Einsamkeit des Gebirges. Die Straße steigt auf fast 5.000 Meter hoch. Zum großen Teil ist die Strecke ungeteert. Außerdem beherbergt sie so viele einmalige Naturwunder, für die man sich ordentlich Zeit nehmen soll.
Deutsch-pünktlich stehen wir 5 Minuten vor 8 Uhr an der Station und warten auf Einlass. Einige andere lokale Tour-Anbieter stehen auch herum, mit Passagierlisten in der Hand. Der Grenzbeamte warnt Thomas mehrmals ausdrücklich davor, den Weg über den gefährlichen Paso Sico zu nehmen, und empfiehlt die Alternativ mit geteerter Strecke über den Paso Jama. Jedoch beruhigt er sich deutlich nach dem er sieht was für ein Auto wir haben. Unsere Ausreise-Stempel bekommen wir ohne Probleme, der Zollbeamte verweist uns auf eine Kontrollstelle entlang der Route. Hm, sonderbar.
Obwohl wir uns schon bei der Abfahrt auf etwa 2.400 Meter Höhe befinden, ist im Verlauf der Fahrt die weitere Steigung deutlich zu spüren. Nach etwa einer Stunde liegt der letzte bewohnte Ort hinter uns. Auf den nächsten treffen wir erst in Argentinien, dazwischen liegen etwa 350 Kilometer. Die Landschaft erinnert uns an das Altiplano in Peru und Bolivien. Die Wüste wirkt nicht mehr leblos. Der Boden ist von gelben Grasbüscheln bedeckt. Von weitem sehen sie seidig und kuschelig aus. Beim Anfassen dagegen fühlt sich das Gras scharfkantig und stachelig an. Falls das jemand fressen können soll, soll er auch einen gepanzerten Gaumen haben.
Als wir gut vier Tausend Meter Höhe erreichen, biegen wir von der Hautstraße in Richtung der Lagunas Miscanti und Miniques ab. Waren wir auf der Straße fast allein unterwegs, treffen wir dort auf einen regen touristischen Betrieb. Touristen werden aus Bussen ausgeladen und dürfen ihr Frühstück mit einer spektakulären Aussicht genießen. In der ersten der beiden Lagunen, der Laguna Miscanti, spiegeln sich im ruhigen Wasser die verschneiten Adengipfel.
Die zweite Lagune ist kleiner, dafür gibt es hier seltene Vögel. Wer erwartet schon auf vier Tausend Metern eine Möwe? Alle, die wir bis heute gesehen haben, waren direkt am Meer zu finden. Doch die Andenmöven haben sich anders entschieden. Nur zum Überwintern begeben sie sich in die Küstenebene. Im Verhalten stehen sie aber den anderen Artgenossen nicht nach und kreisen ziemlich frech fast direkt über unseren Köpfen. Sicherlich sind sie gewohnt vom Touristenfrühstück ein Paar Krümmel zu bekommen.
Nachdem wir die Lagunen verlassen haben, gehört die Natur nur uns. Wir entdecken erst ein einzelnes Vikunja in der Ferne, dann eine kleine Herde. Später kommen manche fast bis zu unserem Auto. Thomas versucht ein Tier zu streicheln, doch sie sind scheu, und setzen sofort zur Flucht an. Die Tiere sind mit den Guanakos verwandt und sehen diesen auch sehr ähnlich, jedoch sind sie viel schlanker und zarter gebaut. Biologisch gesehen gehören sie zu den Kamelen. Ihre Wolle ist wohl die teuerste und seltenste Wolle der Welt. Inkas haben die wilden Tiere zum Scheren eingefangen, um sie nach der Schur wieder frei zu lassen. Das Privileg Kleidung aus ihrer Wolle tragen zu dürfen gestand ausschlieslich dem hohen Adel. Die Spanier haben auch schnell gelernt, gingen aber anderes vor. Um an die Wolle zu kommen, schoßen sie die scheuen Tiere einfach ab, was den Beständ deutlich dezimiert hat. Heute sind Vikunjas geschützt. Wie zu Inkazeiten werden sie nach der Schur wieder freigelassen.
Die einsame Bergstraße führt uns weiter durch atemberaubende Landschaften. Man kann sich nicht entscheiden, welche Lagune am schönsten ist. Erst halten wir bei jeder an, doch dann sehen wir ein, dass wir uns den Luxus nicht leisten können. Ausgerechnet nachdem wir beschlossen haben, jetzt reicht es, kommt ein so spektakulärer See, dass wir doch nicht nur anhalten, sondern auch aussteigen und hinwandern. Der sonst fast trockene Salzsee ist mit einer dünen Schicht Wasser bedeckt. Eisige Nachtkälte hat dafür gesorgt, dass ein Teil des Wassers gefroren ist. Eine zarte dünne Eisdecke liegt an den flachen Stellen über dem Wasser. Die Kinder versuchen herauszufinden, ob das Eis sie trägt, und haben schnell nasse Füße. Peitschender Wind macht uns darauf aufmerksam, dass mit dem Wetter hier nicht zu scherzen ist. Wir steigen ins Auto und setzen unsere Reise fort.
Wie vom Zollbeamten vorhergesagt kommt tatsächlich an der Grenze eine Kontrollstation. Als wir das Grenzgebäude betreten, dröhnt uns Erwachsenen ordentlich der Kopf. Wir sind schon zu lange zu hoch oben gewesen. Die ersten Anzeichen der Höhenkrankheit sind unmissverständlich. Alle Schalter und Schreibtische der Station sind leer. Erst nach und nach schleichen ein paar Beamte herbei. Die Grenzbeamten sehen so aus, als ob wir sie aus dem Nickerchen gerissen hätten. Keiner trägt eine Uniform. Obwohl die Grenze am Tag nur eine Handvoll Autos passieren, ist die volle Besatzung vorhanden. Zoll, Polizei etc. Und das doppelt, da für Chile und Argentinien.
Als erstes nehmen die Chilenen unsere Pässe und kratzen sich am Ohr. Irgedwas stimmt nicht. Doch was? Beim Ausreisen aus Chile gab es noch nie Probleme. Erst versucht der Beamte uns was zu erklären. Dann nimmt er unsere Ausweise und verschwindet zu seinem Vorgesetzten im Hinterzimmer. Nicht schon wieder! Die Kinder lassen sich nicht verunsichern und nehmen den im Gebäude stehenden Kicker fest in Beschlag. Arvid und Talora verteidigen das Tor und kämpfen um den Titel des besten Torwarts. Sie werden laut und regelmäßig von der Verteidigung zusammengestaucht. Es wird richtig laut. Ab und zu verschwinden die Bälle unter den Schränken zu denen wir keinen Zugang haben, dann fühlen sich die Grenzbeamten zuständig und kriechen unter die Möbel.
Schließlich kommt unser Grenzbeamte zurück und teilt uns mit, dass wir in San Pedro aus Chile nicht hätten auschecken dürfen. Reiseführer und Touristeninformation war wohl falsch informiert. Das macht man nur für die Ausreise nach Bolivien, da es dort an der Grenze keine Grenzkontrolle gibt. Na toll, und warum hat uns derjenige, der unsere Pässe in San Pedro mit dem Ziel Salta abgestempelt hat, nicht davor bewahrt? Hat er geglaubt, Salta läge in Bolivien? Und was ist jetzt? Zum Glück lässt sich der Fehler noch korrigieren. Der Stempel von San Pedro wird nach einem Telefonat mit dem dortigen Grenzbeamten durchgestrichen, und wir bekommen einen neuen, mit gleichem Datum. Sinnvoll? Die Frage soll man sich in Südamerika nicht wirklich stellen.
Weiter geht es gut und schnell, nach südamerikanischen Maßstäben natürlich. Wir wandern Schritt für Schritt weiter an den kleinen Schaltern. Erstmal müssen die Herren alle an ihren Stempeln drehen. Es ist fast drei Uhr nachmittags, aber wir sind heute die ersten, die den Grenzübergang nutzen. Alles geht gut, bis die Argentinos anfangen zu zählen. Bis fünf geht es gut, sechs klingt nach einem riesigen Problem. In einem Land mit den zum Teil prekären Verkehrsbedingungen und völliger Abwesenheit der Kindersitze kommt es darauf an, dass die Anzahl der Sicherheitsgurte mit der Anzahl der Passagiere übereinstimmt. Doch zu unseren Glück sind die Herren heute gnädig und lassen es durchgehen, dass wir zu sechst in einem Fünfsitzer unterwegs sind. Die Gepäckkontrolle ist dann reine Formalität. Endlich dürfen wir weiterfahren. Die Kinder lösen sich mit deutlichem Unmut vom Kicker. In ihrer Erinnerung bleibt dies mit Sicherheit der schönste Grenzübergang der Geschichte.
Hat man auf chilenischer Seite tolle Landschaften genießen können, wirkt die argentinische Seite öde und leblos. Wir fahren durch die flache mit spärlichem Gras bedeckte Hochebene und hoffen, dass es irgendwann mal wieder runter geht. Vor allem Thomas brummt der Kopf von der Höhe und der Schotterstraße. Doch der Abstieg lässt auf sich warten. Während wir entlang eines Baches fahren, kommt das Wasser uns entgegen. Das kann nichts Gutes heißen. Der Bach verbreitet sich und wird zu einer breiten Marschebene. Es ist so kalt, dass die langsamfließenden Stellen mit eine teils dicken Eisdecke überzogen sind. Wir sind deutlich über 4.500 Meter.
Ganz unerwartet entdecken wir fast direkt neben der Straße ein Paar weißer Andengänse, die am im Bach wachsenden Gras zupfen. In so einer kargen Gegend erwartet man eher was kleines, angepasstes, dürres und gedrungenes, aber doch nicht eine ziemlich fette weiße Gans! Doch der Kopf von Thomas brummt mittlerweile so stark, dass er kein Blick mehr für die Schönheit der Vögel hat und lieber in der kleinen Pause die Augen schließt.
Es dauert noch einige Zeit, bis wir den höchsten Punkt der heutigen Reise erreichen und unser Abstieg beginnt. Und was für einer! Der schmale Schotterweg schmiegt sich wie eine Schlage an den steilen Hang. Man hat das Gefühl, bis zum Boden sei es Kilometer tief. Eine Leitplanke fehlt durchgehend. An den gefährlichsten Stellen gibt es ein paar größere Steine als Markierung. Als Natalya feststellt, dass wir auf der schmalen Straße einen Lastwagen überholen müssen, wird sie nervös. Hinter dem Lastwagen zu kriechen ist auch keine Option. So kommen wir mit Sicherheit nicht vor der Dunkelheit an. Doch der Lastwagenfahrer ist nett und fährt an der ersten möglichen Stelle möglichst nah an die Wand, damit wir an ihm vorbei können.
Als der schlimmste Teil der Serpentinenstrecke vorbei ist und wir nicht mehr an Rand des Bodenlosen fahren, versucht Natalya Thomas zu entlasten und schlägt ihm vor, das Fahren für ein Stück zu übernehmen. Doch der Skipper wehrt sich und möchte lieber selber alles unter Kontrolle haben – es währe obendrein vom Mietvertrag her nicht erlaubt gewesen. Das Gespräch liegt kaum 5 Minuten zurück, als uns an einer schlecht einsehbaren Linkskurve auf unserer Fahrbahn im Affentempo ein Jeep entgegen kommt. In einer blitzschnellen Reaktion reißt Thomas das Steuerrad nach rechts, so dass die zwei Autos knapp aneinander vorbei kommen. Da hat jemand scheinbar so einen Zeitdruck, dass er seines und wer weiß noch wessen Leben aufs Spiel setzt.
Die Sonne steht schon sehr tief am Horizont als wir an einem relativ kleinem unattraktiv aussehenden Dorf ankommen. Hier in San Antonio de los Cobres liegt die Endstation eines der berühmtesten Züge der Welt, dem Tren a las Nubes. Bis in die 80er Jahre wurde die ganze Strecke von Salta nach Antofagasta regelmäßig befahren. Heute ist hier, auf 3.774 Meter Höhe Schluss. Weiter Richtung Grenze ging die Strecke fast auf 4.200 Meter hoch. Der Zug befördert heute ausschließlich Touristen. Die Fahrt ist mit erheblichen Kosten und nicht unerheblichen Risiken verbunden. Um den an Höhenkrankheit Leidenden helfen zu können, führt der Zug Sauerstoffgeräte und Ärzte mit. Unter einigen seiner Viadukte fahren wir durch. Sie sehen nach einer beispiellosen Ingenieurleistung aus der Vergangenheit aus, wirken aber nicht besonders vertrauenserregend. An einer der höchsten und berühmtesten Brücke la Polvorilla blieb 2005 der Zug wegen einer defekten Lokomotive stecken. Da haben die Passagiere sicherlich mehr den Ausblick genossen, als es ihnen lieb wäre.
Hätten wir gewusst, dass es in diesem ehemaligen Arbeiterdorf eine kleine Unterkunft gibt, wären wir sicherlich dankbar dort geblieben. Das haben wir aber erst in Salta herausgefunden, und eine lange Suche mit einem unbestimmten Ausgang kann man sich in der Gegend nicht leisten.
Nach dem weiteren Abstieg ändert sich die Landschaft. Es ist immer noch sehr bergig. Die Berge sind aber mit prächtigen Kakteen bewachsen. Und natürlich gibt es auch hier die für Argentinien so wichtigen Kühe. Sie grasen in großen Mengen an allen mehr und weniger geeigneten Stellen.
Es dämmert schon und wir haben immer noch mehr als Hundert Kilometer vor uns. Wenigstens ist die Straße wieder geteert. Doch als uns die völlige Dunkelheit erwischt, verwandelt sich die gut geteerte Straße in eine albtraumhaft staubige Schotterpiste, auf der jedes Fahrzeug so viel Staub aufwirbelt, dass man überhaupt nichts mehr sieht. Wir schauen uns verzweifelt die kleinen Dörfer am Rande der Straße an auf der Suche nach einem Hotel oder einer Hospedaje, egal mit Kakerlaken oder Bettwanzen, Hauptsache ein Bett. Aber es ist nichts zu finden.
Erst als wir völlig erschöpft in dem kleinen Städtchen Campo Quijano ankommen, sieht Natalya das Zeichen der Touristeninformation. Und was für ein Glück, wegen einer großen Feier mit Nationaltanz, ist die Stelle noch besetzt. Die liebe Frau empfiehlt Natalya ein gutes und günstiges Hostel nur drei Blöcke entfernt. Dort steigt Natalya aus und verhandelt mit dem Hotelier. Nein, er hat kein(e) Zimmer, wo er sechs Leute unterbringen kann! Als Natalya ihn verzweifelt in ihrem „perfekten“ Spanisch nach einem anderen Hotel fragt, ist ihm doch die Mühe des Erklärens zu groß und es findet sich doch ein Zimmer. Die Kinder müssen zwar je zu zweit in einem Bett schlafen, aber wenn stört das heute? Dafür gibt es eine wirklich warme Dusche ohne Zufallsgenerator, der zwischen warm und kalt entscheidet. Natalya und Franka begeben sich auf die Straße, um was Essbares zu finden. Aber Vegetarisch in Argentinien, dass ist ja eine andere Geschichte…