(09.08.2016 – Tag 780)
Arvid protestiert vehement gegen das frühe Aufstehen. So etwas wie Aufwachen auf Kommando kennt er ja gar nicht. Heute haben wir aber so viel vor, dass wir unsere Pension, in der wir in Copiapo übernachtet haben, noch vor dem Frühstück verlassen müssen. Vor uns liegen mehr als 500 km Fahrt durch eine Wüste, in einer vollkommen menschenleeren Gegend. Über den etwa 4.800 Meter hohen Paso San Francisco wollen wir heute Abend Argentinien erreichen. Auf der Strecke gibt es keine einzige Siedlung.
Obwohl wir herausgefunden haben, dass unser Tank vermutlich ausreichend Diesel für diese Fahrt fasst, nehmen wir einen vollen Ersatzkanister mit. Wir frühstücken am Straßenrand und freuen uns über einen Pickup und einen Bus, die an uns vorbei ziehen. Wir sind hier doch nicht ganz alleine.
Die Steigung lässt sich kaum spüren, die Straße windet sich durch die Täler langsam aber stetig nach oben. Letztlich kommen wir aber immer weiter nach oben. Uns ist dann doch ein wenig mulmig zu mute, so hoch oben in den Bergen war bis jetzt keiner vor uns. Die Schotterstraße ist in makellosem Zustand und gut ausgeschildert. Man fragt sich, nur wie sinnvoll wohl diese Investition gewesen war. Unsere Freude über die anderen Fahrzeuge war auch zu voreilig, nach einigen Kilometern kommt der Bus wieder zurück (wo auch immer er in dieser Gegend ohne Menschen war), und für den Rest des Tages treffen wir kein einziges Fahrzeug mehr.
Obwohl die Landschaft sehr anziehend ist, fahren wir zügig durch. Keiner will in dieser Gegend von der Dunkelheit auf einer Bergstraße überrascht werden. Nur ab und zu gönnen wir uns eine Pause um Beine zu vertreten und ein Bild zu schießen. Bei der nächsten sagt Natalyas eingebauter Höhenmesser, der sich durch Kribbeln in den Beinen bemerkbar macht, dass wir die Marke von 3.500 Meter überschritten haben. Bis jetzt geht es allen gut. Arvid besteht darauf, dass ihm dauernd die mitgenommenen Pixibücher vorgelesen werden. Die Aufgabe könnte unter diesen Bedingungen sicherlich zum Astronautentraining gehören.
Wir passieren die Abzweigung zum National Park „Tres Cruzes“ – eine fantastische Gegend, aber leider nichts für den Winter. Die Straßen in den höheren Lagen sind wegen Schnee unpassierbar.
Wenige Kilometer vor der chilenischen Grenzstation biegen wir zu einem Salzsee – Salar de Maricunga ab, fahren querfeldein direkt ans Wasser und steigen aus. Um uns herum, beherrscht vom Ojos del Salado, dem mit fast 6.900m höchsten aktiven Vulkan der Erde, liegen die schroffen schneebedeckten Andengipfel. Es ist absolut ruhig, kein Geräusch, nicht ein Windhauch, kein Insekt, kein Vogel ist zu hören. In dieser perfekten Stille spiegeln sich die Berggipfel in dem ruhigen Wasser des Sees, dessen mit Salz gesättigte Wasser einen idealen Spiegel bildet. Der Augenblick ist so ergreifend, dass wir uns von dem See nur mit Mühe lösen können.
Nach zehn Kilometern kommen wir am chilenischen Grenzposten an… um ein schlichtes Din-A4 ausgedrucktes Blatt zu entdecken, mit einem niederschmetternden Inhalt: „Paso cerrado“. Wir sind mehr als 200 Kilometer Bergstraße gefahren, um herauszufinden, dass der Pass geschlossen ist. Ein Grenzbeamter erzählt uns von drei Metern Schnee, die die Straße bedecken. Es sei wirklich kein Durchkommen mehr, nicht mal bis zu der nur wenige Kilometern entfernten Laguna Verde. Obwohl Natalya in solchen Lagen eher bissig wird, sieht auch sie hier sofort ein, dass mit dem Wetter in dieser Höhe nicht zu spaßen ist, und die Männer haben mit Sicherheit gute Gründe uns hier aufzuhalten. Wir sind aber auch froh, nicht vorher von der Passsperrung erfahren zu haben. Sonst wären wir sicher nicht hier hoch gefahren und hätten die atemberaubende Szenerie nie zu sehen bekommen.
Statt nach Copiapo zurück zu fahren, nehmen wir die Abzweigung, die nach El Salvador (nicht das Land, sondern die chilenische Stadt) führt. Obwohl wir nicht wissen, was uns dort erwartet, ist es spannender als die gleiche Strecke wieder zurück fahren zu müssen. Wir rasen auf einer Schotterstraße durch eine Hochebene, auf über 4000 Metern Höhe. Am Straßenrand liegt Schnee, kleine Bäche sind zum Teil gefroren. Die Straße ist nicht mehr so gut ausgeschildert wie vorher, so fährt Thomas mehr nach Gefühl. An einer Stelle erkennt er eine Abzweigung zu „Termas“ – heißen Quellen. Die Kinder malen sich schon aus, wie sie im warmen Wasser planschen werden. Aber als wir nach einer langen Suche dort ankommen, sind auch die Termas zugefroren. Dass es hier so bitter kalt werden kann, haben wir aufgrund der gelesenen Reiseberichten nicht erwartet.
So sanft wir hochgefahren sind, so abrupt müssen wir absteigen. Eine gewundene Serpentine führt uns an steilen Wänden eines Canyons hinunter. Man hat das Gefühl, man kann kilometertief hineinschauen. Als wir unten ankommen, schaltet Thomas den Motor aus und schließt die Augen. Nach den Strapazen braucht er dringend eine Pause – Höhe, Sonne und Schotterpiste fordern ihren Tribut. Die weitere Fahrt führt uns durch die zerklüftete Berglandschaft zur kleinen Minenstadt El Salvador. Wir hoffen dort eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden, was sich nicht so einfach gestaltet. Touristen sind scheinbar das letzte was man hier erwartet. Aber wir haben Glück und halten vor einem kleinem Hotel an, mit einem großen Zimmer, in dem jeder sein eigenes Bett bekommt und einem WLAN. Was will man noch mehr?