(08.08.2016 – Tag 779)
Wer nur Europa ohne Grenzen kennt, dem werden die ganzen Vorteile der fehlenden Grenzkontrollen nicht all zu oft bewusst. Die Länder des südamerikanischen Kontinents scheinen von der Idee der offenen Grenzen noch Lichtjahre entfernt zu sein. Man wird als Außenstehender kaum das Gefühl los, dass fast jedes Land seine Nachbarn entweder direkt hasst oder wenigstens verachtet. Chile versteht sich nicht mit Argentinien aufgrund der Landesstreitigkeiten im Beagle Kanal, und dabei geht es um einige kleine Inselchen. Chile und Bolivien und Peru können sich gegenseitig nicht ausstehen. Spätestens nach dem Salpeterkrieg und der Zwangsabgabe des Territoriums um Antofagasta scheint jede Annäherung ausgeschlossen zu sein. Die Liste des gegenseitigen Hasses ist lang und führt unter anderem zu Schwierigkeiten bei den Grenzübergängen. Mietet man in Chile ein Auto, muss man für die Fahrt nach Argentinien eine gesonderte Erlaubnis beantragen. Der Spaß kostet alleine über 100 Euro, dabei wird penibel auch der Zeitraum eingetragen, innerhalb welchen sich das chilenische Mietauto in Argentinien befinden darf. Wir haben ein Mal schon versucht die Grenze nach Argentinien ohne solches zu überqueren, und sind dabei kläglich gescheitert. Dieses Mal sind wir schlauer und besitzen das teure Papier, nur gilt das erst ab morgen. Wir müssen noch einen Tag rund um Copiapo verbringen.
Dieses Mal nehmen wir den Hauptweg, der nach hiesigen Verhältnissen als ziemlich befahren gilt. Alle fünf bis zehn Minuten kommt einem ein Auto entgegen. Wir fahren an einem havarierten Bus vorbei. Die Fahrgäste winken den vorbeifahrenden Autos zu. Wir sind froh, dass es nicht unserem Bus passiert ist. In der Wüste per Anhalter zu reisen wäre ohne ordentlichen Wasservorrat viel zu aufregend.
Für die Mittagspause halten wir an einer Ruine an, in der Hoffnung einen kleinen Fleck Schatten dort zu finden. Die Mauern aus Lehm und Ziegelsteinen lassen ihr Alter nur schwer einschätzen. Zu gut wird in der trockenen Luft der Wüste alles konserviert. Die Kinder entdecken mitten in der Anlage große mit Teer gefüllten Becken, allerdings ist er schon längst ausgehärtet. Als Thomas beim Spazierengehen Reste einer alten Eisenbahnlinie hinter der Anlage entdeckt, rechnet Vsevolod eins und eins zusammen und identifiziert die Ruinen als ein Lager für den Eisenbahnbau. Die Teerbecken dienten wohl dazu, Holz durch Tränkung mit Teer haltbar zu machen. An einer der Mauer findet Natalya zwei Bruchstücke, die zusammen einen kompletten Ziegelstein ergeben, mit Namen des Herstellers darauf. Eine spätere Recherche ergibt, dass diese schottische Fabrik vor mehr als 100 Jahren aufgehört hat zu existieren. Somit sind die Reste der Eisenbahnlinie älter als Hundert Jahre. Wenn dafür sogar die Ziegeln aus Schottland importiert werden mussten, fragt man sich schon, was man sonst für den Aufwand zustande brachte, um die Strecke fertig zu stellen… und heute liegt sie brach.
Unser nächstes Ziel ist ein kleines Dorf Inca de Oro. Angeblich haben schon Inca hier in der Gegend Gold gefördert. Wir fahren durch das Dorf, das definitiv seine bessere Zeit schon hinter sich hat. Eigentlich erinnert es mehr an die Geisterstädte des Wilden Westen, als an eine lebendige Menschensiedlung. Alte verlassene Holzhäuser säumen die Hauptstraße. Ab und zu ist eines noch bewohnt, steht aber krumm und schief. Die Karte auf dem „Hauptplatz“ empfiehlt die alten Minen der Gegend zu besichtigen. Obwohl es schon ziemlich spät ist, lassen wir uns auf das Abenteuer ein.
Der genaue Weg ist weder beschildert noch beschrieben, man darf unter vielen Abzweigungen der Schotterpiste immer eine aussuchen, die einem als richtig erscheint. Nach einiger Zeit kommen wir tatsächlich an einer historischen Goldmine an. Die wurde für die Touristen wirklichkeitsgetreu wieder aufgebaut – oder ist sie wirklich erhalten geblieben? Einfache Brettverschläge dienten den Goldsuchern als Unterkunft. In die „Mine“ – ein steil nach unten führendes Loch von etwa einem Meter Durchmesser – kann man auch reinschauen. Das Bild einer steinzeitlichen Mine im Geschichtsbuch unserer Kinder sieht moderner aus. Man muss schon ziemlich lebensmüde sein, um dorthin freiwillig hineinzukriechen.
An der historischen Schule nicht weit von der Mine entfernt, treffen wir einen Minero, der nicht für einen großen Konzern, sondern auf eigene Faust schuftet. Er heißt Christian, und seine Mine sieht der historischen Rekonstruktion erschreckend ähnlich. Nur erhebt sich darüber ein rostiger Förderturm. Wir fragen Christian, ob er hier Gold gefunden hat. „Ja“, erzählt er, „früher fand man hier viel Gold, auch große Klumpen“. Dabei sieht er alles andere als reich aus. Heute muss er viel schuften, um die wenigen Reste, die der Goldrausch des vergangenen Jahrhunderts ihm übrig gelassen hat, ans Licht zu bringen. Er schwitzt unter Tage, noch mehr schwitzt er beim bearbeiten des Fördermaterials draußen. Dabei gibt es kein Wasser, um sich mal ordentlich zu waschen. Aber Christian erzählt strahlend dass er seinen Job vom Herzen liebt und schon als kleines Kind von Steinen fasnziniert war.
Christian zeigt uns beim Verabschieden noch eine Abkürzung, die uns nach Copiapo bringt, ohne das wir zurück nach Inca de Oro fahren müssen, wofür wir uns bei ihm bedanken. Im Gegensatz zu der Hauptstraße führt der Weg quer durch die Hügeln, von deren Spitzen man einen weiten Blick über die in den warmen Abendlicht getauchten Wüste ergattern kann.