(06.08.2016 – Tag 777)
Die Strecke von Valparaiso nach Copiapo ist für eine Nachtfahrt im Bus etwas zu kurz. So müssen wir im Halbschlaf aus dem bequemen Bus aussteigen und uns erst mal in der unbekannten Stadt orientieren. Als wir durch die morgendlich menschenleeren und verstaubten Straßen vorbei an leeren, vergitterten Verkaufsständen gehen, fragen wir uns, ob es sich überhaupt lohnte hierher zu kommen. Grauer Dunst trägt zur ehr düsteren Stimmung bei. Man hat das Gefühl, dass hier ein ganz anderes Land ist, mit dem Flair von Valparaiso gar nicht zu vergleichen.
Da es hier kaum touristische Infrastruktur gibt, sind die Unterkünfte nicht nur einfach teuer, sondern haben auch ein ernüchterndes Preis-Leistungs-Verhältnis. Für 40.000 Peso (60 Euro) bekommt man ein Dreibettzimmer, immerhin mit einem Privatbad – man muss also nicht das Gemeinschaftsbad nutzen. Als wir an der Rezeption nach einem weiteren Zimmer fragen, schaut uns der Hotelier ungläubig an. Reichen uns die drei Betten nicht? Wollen wir tatsächlich das Doppelte ausgeben? Wir überlegen es uns auch anders, und stimmen zu, dass wir doch alle sechs in die drei Betten passen. Zu unserer Überraschung dürfen wir auch gleich am frühen Morgen ins Zimmer. Das mit der Check-In Zeit wird nicht so streng ausgelegt wie anderswo.
Als wir nach einer kleinen Ruhepause das Hotel verlassen, hat sich der Nebel verzogen. Die Straßen füllen sich mit Schülerinen und Schülern in Schuluniformen, Hausfrauen mit kleinen Kindern im Schlepptau. Die ersten Cafes und Verkaufsstände wachen auf. Mit frischen Brötchen aus der Bäckerei setzen wir uns zum Frühstück in den Stadtpark. Natalya findet an einem der Verkaufsstände sogar einen frisch zubereiteten Kaffee aus einer echten Espresso-Maschine. Bevor der Kaffee gebrüht wird, bietet man Natalya eine kleine Probetasse, um die gewünschte Stärke zu bestimmen. Als Natalya dem jungen Mann antwortet, dass sie ihren Kaffee gerne noch stärker haben möchte, schaut er sie zweifelnd an, stampft aber brav möglichst viel Pulver in die Espresso-Maschine. Die Art Kaffee, die wir in gerne haben, kennt man in Südamerika selten. Die meisten sind mit dem Hauch von Kaffee gelöst in Zuckersirup zufrieden.
Für Wüstenverhältnisse regnet es in Copiapo ziemlich viel: etwa 20 mm Niederschlag (also 20 Liter pro Quadratmeter) im Jahr, vor allem in den Wintermonaten. Trotzdem muss jedes der Parkbäumchen regelmäßig gegossen werden. Außerhalb der Parkanlagen gibt es in der Stadt kein Grün zu sehen. Es ist sicherlich auch eine Mammutaufgabe, die Stadt, in der es kaum regnet, sauber zu halten. Und das vor allem, wenn man die Zahl der Hunde berücksichtigt, die sich auf freiem Fuß bewegen. So viele und so wohl genährt wie sie sind, kann es sich wohl kaum um Streuner halten. Sie sind alle ausnahmlos gutmütig und gelassen und scheinen ihr Leben zu genießen. Wenn einer im Eingang im Weg liegt, machen alle Passanten einen Bogen, um das Tier nicht zu stören. An vielen Läden und Verkaufsständen stehen leere Pappkisten, damit die Tiere nicht auf dem kalten Boden liegen müssen. Auch gefüllte Trinkstationen sind reichlich vorhanden. Unsere Kinder sind ganz begeistert von der Tiermenge und wollen zu Natalyas Unmut alle Tiere streicheln und kraulen, was bei den Hunden auf die Gegenliebe stößt. Manche wollen dann gar nicht mehr weg.
Unser nächstes Ziel ist der alte Bahnhof – ziemlich die einzige Sehenswürdigkeit in Copiapo, die unser Reiseführer erwähnt. Das Gebäude erinnert an den Wilden Westen und gehört sicherlich zu den Denkmälen. Aber das Geld, um das Denkmal wenigstens richtig zu konservieren, scheint nicht vorhanden zu sein. Zum Glück fördert das Klima die Konservierung mehr als den Zerfall. Sogar die Holzelemente draußen sind ohne jegliche Pflege noch gut erhalten.
Arvid ist Feuer und Flamme auch die im Bahnhof stehenden Züge und Wagons zu sehen. Aber hinter dem Bahnhof herrscht noch mehr Zerfall als in dem Gebäude an sich. Wir werden darauf hingewiesen uns den alten Waggons unter dem Dach nicht zu nähern, es könne jeder Zeit einstürzen. Die Gleise enden nach einem kurzen verkommenen Stück auch in nirgendwo. Arvid versteht nicht ganz, warum alles so kaputt ist. Dafür haben die Kinder viel Spaß beim Besteigen der beiden vor dem Gebäude abgestellten Dampflokomotiven. Hier kann nach Herzenslust gespielt werden.
Am Abend besuchen wir ein kleines Museum: Museo regional de Atacama. Der Eintritt ist frei, also kann man nicht viel falsch machen. Eigentlich haben wir erwartet, ein wenig mehr über die Wüste an sich zu erfahren. Aber das Museum greift nur einzelne Teilaspekte des Lebens in der Wüste auf. Es geht hauptsächlich um den Bergbau. Eine Ausstellung erzählt ausführlich über das Bergunglück in der Mine von San Jose, einer alten maroden Gold- und Kupfermine in der Nähe von Copiapo. Die Mine galt schon vor dem großen Unglück als gefährlich, sowohl bei Bergleuten als bei Behörden. Die Männer nahmen die Gefahren in Kauf, die Behörden drückten alle Augen zu.
Auch am 5. August 2010 sind 33 Männer in die Grube eingefahren. Während der Arbeiten stürzte der Berg über ihnen ein. Ein gewaltiger Dioritfelsen schnitt sie komplett von der Außenwelt ab. Die Ausmaße des Felsens nahmen den Leuten jede Hoffnung auf einen Durchbruch. Eingeschlossen in fast 700 Metern Tiefe versuchten die Kumpels dem Berg durch den Wetterschacht zu entkommen. Nachdem sie 400 Metern auf Leitern hochgeklettert sind, endete die Leiter mitten im Nichts. So kann man wohl auch sparen. Die Männer brachten ein Wunder der Selbstbeherrschung und Kameradschaft zustande. Durch Rationierung der Vorräte bekam jeder pro 48 Stunden einen halben Becher Milch, einen halben Keks und einen Löffel Thunfisch.
Es dauerte mehr als zwei Wochen bis ein Bohrer der Rettungsteams, denen der genauer Aufenthaltsort der Eingeschlossenen nicht bekannt war, in diese Tiefe durchstoßen konnte. Man kann sich kaum die Freude der Männer vorstellen, denen als erfahrenen Bergleuten ihre fast aussichtslose Lage wohl sehr bewusst war. Noch mehr Jubel brach bei den Familien der Bergarbeiter aus, als sie an dem herausgezogenen Bohrer einen kleinen Zettel entdeckt haben, auf dem die Nachricht stand: „uns 33 geht es gut“. Die Bergwerkfamilien kennen die traurige Statistik ihres Gewerbes. Jedes Jahr sterben weltweit 12 Tausend Bergmänner bei Minenunglücken. Dieser schlichte Zettel, der in Atacama Museum jetzt in einer besonderen Vitrine gehütet wird, grenzte an ein Wunder. Keine einzige Familie musste trauern, alle durften gemeinsam feiern, zusammen mit der halben Welt, die die Rettungaktion live im Fernseh verfolgt hat.
Es dauerte noch einige Wochen, bis die Bohrung so breit wurde, dass eine Rettungskapsel zu den Bergleuten herunter gelassen werden konnten. Der Berg hat sein eigenes Leben entwickelt, und seine Bewegungen bedrohten weiterhin die auf Hochtouren laufende Rettungsaktion. Die Kapsel des Aufzuges, mit der die Männer einzeln durch den nicht verstärkten Bohrschacht hochgehoben wurden, bliebt auch im Museum stehen. Jedem der Bergleute war es wohl bewusst, dass die Kapsel in einem instabilen Bergwerk jede Zeit stecken bleiben kann. Dieses Mal war der Berg gnädig und hat alle Männer gehen lassen.
Während die Kinder im Park Schach spielen und Eis essen, begibt sich Thomas zum Flughafen, um unseren Mietwagen abzuholen. Nach einer langen Recherche hat er dort einen Gelände-tauglichen Jeep gefunden. Ansonsten werden in dem Region hier nur Pick-ups angeboten. Der Flughafen ist nicht gerade um die Ecke, aber den Weg und die Kosten nehmen wir in Kauf. Was sollen wir mit einem Pick-up? Wohin mit dem ganzen Reisegepäck? Das kann man in Südamerika doch nicht einfach auf der Ladefläche stehen lassen! Als Thomas zurückkehrt, ist er stolzer Fahrer eines massiven und sicher Gelände-tauglichen roten …. Pick-ups!! Mit zwei Überrollbügeln, Warnlicht und einem zwei Meter hohen Fähnchen an der Ladefläche, damit man auch notfalls für den größten Muldenkipper sichtbar bleibt.
Tja, irgendjemand hat geschummelt. Anders als im Internet angeboten haben sie gar keine Jeeps. Thomas hat den ganzen Parkplatz der Autovermittlung abgesucht, alles nur schöne rote robuste Minen-Pick-ups. Für unseren Gepäck muss es uns eine Lösung einfallen. Wenigstens werden mir mit nassem Gepäck in der Wüste keine Probleme haben – ehr mit Staub und Diebstahl. Also gehen wir kurzerhand in den Supermarkt und kaufen uns große Müllsäcke. In die wollen wir das Gepäck stauen. Und auf der Straße erstehen wir noch eine Kette und ein Vorhängeschloss. Damit ist das Thema Diebstahl wenigstens grob gelöst.