(04.08.2016 – Tag 775)
Am Vormittag kommen wir am Busbahnhof von Valparaiso an und versuchen uns zu orientieren. Zuerst kämpfen wir uns auf der Suche nach einem Frühstück durch den Markt, der sich in unmittelbarer Nähe des Busbahnhofs befindet. Mit einer großen Reisetasche und drei kleinen Rucksäcken ist das keine einfache Aufgabe.
Der Markt bietet in Hülle und Fülle alles an, was das Meer und die Erde hervorbringen. Frisches, saftiges Gemüse, mit einer breiten Palette an Grüntönen: Salat, Brokkoli, Spinat, Mangold – alles frisch vom Feld – liegt neben knallroten in der Sonne gereiften Paprika und Tomaten. Die Preise sind nicht einmal halb so hoch wie im Süden. Ein großer Laden bietet nur Eier an. An der nächsten Ecke windet sich noch lebendiger Fisch unter dem Messer. Die Kinder gehen schnell durch den Fischmarkt. Nicht dass die Mama Zeit hat, einen unbekannten Fisch zu kaufen.
Wir werfen einen Blick auf den Stadtplan. Bis zu unserer Wohnung ist es gar nicht weit, also brauchen wir kein Taxi. Was wir dabei unterschätzen ist die Hanglage der Wohngebiete von Valparaiso. Auf dem Weg zu unserem Apartment kommen wir ganz schön ins Schwitzen. So milde Temperaturen sind wir gar nicht gewöhnt, und der Weg nach oben mit dem ganzen Gepäck ist anstrengend. Es geht über steile Treppen und enge Gewege durch verwinkelte Gassen. Die Zeit ist kostbar, deswegen lassen wir unser Gepäck und eventuell von der Reise noch vorhandene Müdigkeit im Apartment und laufen in die Stadt.
In der Nähe entdecken die Kinder einen historischen Aufzug den Berg hoch kriechend und wollen ihn sofort auch ausprobieren. Der mehr als 100 Jahre alte Aufzug besteht aus zwei miteinander verbundene Holzgondeln, die im Gegentakt hoch und runter fahren. Um 1900 verfügte die Stadt über jede Menge dieser Aufzüge davon, heute fahren nur noch wenige. Der Rest zerfiel langsam mit der Zeit mangels des Geldes für die Instandhaltung. Die ersten Aufzüge funktionierten alleine anhand der Schwerkraftes. Die nach unten fahrende Gondel hat ihr am gleichen Seil hängendes Gegenstück nach oben gezogen. Waren zu wenige Passagiere eingestiegen, wurde in den Tank der oberen Gondel Wasser gepumpt, um die Gondel schwerer zu machen. Das dauerte bestimmt! Deswegen wurden neuere Aufzüge mit Elektromotoren gebaut bzw. ältere sukzessive umgerüstet. Aber was heißt hier schon neu?
Arvid ist von der Fahrt ganz begeistert, nur schade, dass der Spaß viel zu schnell zu Ende ist. Er würde gerne bestimmt mindestens zehn mal hoch und runter fahren. Tageskarten gibt es leider nicht. Obwohl, die Fahrt ist mit 100 Peso (13 Euro-Cent) wirklich preiswert. Das könnte der Kleine aus seinem Taschengeld bezahlen, aber die Elten nutzten heute ihre Macht wieder mal unverschämt aus, und der kleine Kerl muss schon nach der ersten Fahrt aussteigen. So ein Pech!
Der Rundgang durch die Altstadt zeigt, dass die Stadt definitiv schon bessere Zeiten erlebt hatte. Viele prächtige alte Häuser sind in einem erbärmlichen Zustand. Ihre bröckelnden Fassaden haben schon lange ihre Farbe verloren. Im 19. Jahrhundert war Valparaiso eine der bedeutendsten Städte an der Westküste Südamerikas und erste Anlaufstelle für die großen Schiffe nach der Umrundung des Kap Horns. Der Anbruch des 20. Jahrhunderts besiegelte den Untergang. Erst erschütterte 1906 ein schweres Erdbeben die Stadt und brachte schwere Zerstörungen mit sich. Kurz darauf ersetzte künstlicher Salpeter aus Europa den in Bergwerken geförderten Salpeter aus Chile, der hauptsächlich aus Valparaiso verschifft wurde. Wenige Jahre später wurde der Panama Kanal eröffnet, und die lange und gefährliche Kap-Horn-Route verlor an Bedeutung und die Stadt an Reichtum. Während alte Häuser aus massivem Stein gebaut wurden, sind die neueren Häuser aus Holz und Ziegeln gebaut und mit gestrichenem Wellblech überzogen. Von weitem machen sie einen fröhlichen farbenfrohen Eindruck.
Wir fahren mit den Aufzügen auf die von den Touristen beliebtesten Hügel Cerro Conception und Cerro Alegre. Im Schatten eines kleinen Park sitzend erhalten wir einen kleinen Einblick in das Leben der betuchten Chilenen. Ein indigenes Kindermädchen bringt zwei Kinder mit deutsch aussehenden Schulranzen und edelen Schuluniformen nach Hause, in eine kleine Villa im Schatten der Bäume direkt an der Spitze des Hügels, mit Blick auf die unendliche Weite des Pazifiks. Die ganze Szene wirkt wie ein Spielfilm über die alte gute Kolonialzeit.
Den Versuch mit der nächsten Seilbahn hoch zu fahren redet uns die ihn bedienende Frau höflich aber nachdrücklich aus. Es sei zu unsicher, unsere Kamera ist dafür viel zu teuer. Leider kommt hier wieder das leidliche Thema Sicherheit in Südamerika ins Spiel. Auch anderswo wird Thomas mehrmals herzlich empfohlen die Kamera doch lieber bitte einzupacken und zu verstecken.
Am nächsten Tag entdecken die Kinder einen kleinen Park, in dem sie große alte Dreiräder ausleihen können. Auch Arvid bekommt ein Fahrzeug. Seines ist voll nach dem südamerikanischen Verständnis für ein Kleinkind. Das hilflose Geschöpf darf weder lenken noch treten und wird von seinem Papa 20 Minuten lang geschoben und gelenkt. Arvid und Thomas sind mit dem Modell nicht wirklich zufrieden und tauschen es schnell gegen einen viel zu großes Fahrzeug. Arvid versucht gleichzeitig zu lenken und zu treten, was noch nicht wirklich zuverlässig klappt. Die drei Großen düsen mit ordentlicher Geschwindigkeit im Park. Natalya hat Angst, dass sie die Passanten überfahren. Die Passanten beschweren sich nicht, scheinbar kennen sie schon das Konzept.
Überhaupt, es gibt nicht so vieles, was Kinder hier anfangen können. Die Spielplätze sind eher rar und wirken so, als ob sie noch aus der Zeit vor der Militärdiktatur stammen. Die Schaukeln, mit Sitzen aus massiven Metall, und ebenso gefährlich wirkenden Mettalrutschen und Wippen. Um so mehr freuen sich unsere Kinder als sie einen kleinen Freizeitpark entdecken. Arvid fährt ein antik aussehendes Karussell. Unter vielen Märchenfahrzeugen versteckt sich ein khakifarbener Raketenträger. Auch wenn die Zeiten der Militärs schon vorbei zu sein scheinen, trifft man noch viel zu häufig auf ihre Auswüchse. Wir unterhalten uns mit einem älteren Mann, dessen Enkel mit Arvid gemeinsam Karussell fährt. Er lebt schon seit 73 Jahren in der Stadt, hat als Fahrer gearbeitet und kennt hier jede auch noch so versteckte Ecke.
Als wir zurück zu unserer Wohnung fahren wollen, geht uns ganz anders. Die Kinder wollen unbedingt den Oberleitungsbus ausprobieren, und wir haben keine Ahnung, ob wir mit ihm wirklich nach Hause kommen. Einen ordentlichen Busfahrplan mit Haltestellen und Fahrzeiten haben wir eh in Chile noch nie gesehen. Die Busse kommen dann, wenn sie kommen und halten dort an, wo man sie drum bietet. Die Route muss man vorher kennen, nachschaun kann man sie nicht. So probieren wir es auf gut Glück und steigen in den Oberleitungsbus.
Vor allem Arvid ist über den Bus mit Hörnern begeistert. Natalya erinnert sich an ihre Zeit in Russland. Dort gibt es genug O-Busse und Natalya erinnert sich dunkel, dass sie ziemlich unzuverlässig sind. Tatsächlich bleibt unser Bus in der Mitte der Strecke stehen. Alle Passagiere steigen aus, keiner ist empört oder aufgeregt. Einer erklärt den ahnungslosen Ausländern, dass gleich der nächste kommt und alle abholt. Das lohnt sich für uns auch. Der nächste O-Bus sieht voll nach Retro aus, mit Ledersitzen und runden gelben Leuchten sieht er ganz stilvoll aus. Und als Schmankerl sind die Knöpfe im Innern auch noch auf Deutsch beschriftet.
Wir kaufen uns die Bustickets für die weitere Fahrt nach Copiapo weiter im Norden von Chile. Der Bus fährt wieder am späteren Abend. Wir überlegen wie wir die Zeit bis zur Abfahrt verbringen. In Kino läuft Ice Age IV und die Kinder sind einstimmig dafür, dass wir uns den Film anschauen. Vom Spanisch können wir nicht viel verstehen, aber sogar der Kleine bleibt die ganze Zeit im Saal und will nicht raus. Scrat auf der Leindwand zu sehen reicht schon für ein kurzweiliges Filmvergnügen. Als wir am Abend in den Bus einsteigen, sind alle hundemüde. Am nächsten Morgen wachen wir mitten in der Wüste kurz vor Copiapo auf.