(12.03.2016 – Tag 660 – 12.101 sm)
Als wir früh morgens in der Caleta Sally liegend aus dem Fenster schauen, sehen wir ein Wunder – strahlend blauer Himmel. Einen besseren Tag für den Besuch des nahe gelegenen Gletschers Pio XI hätten wir nicht wählen können. Im Laufe des Morgens verziehen sich auch die letzten Wölkchen am Horizont.
Wir lösen die am Vortag so mühsam ausgebrachten Landleinen und fahren los. Nicht alle sind begeistert, manche sind sogar richtig missmutig. „Schon wieder ein Gletscher!“ Die Kinder würden am liebsten in der Bucht bleiben und in der dort entdeckten Fischerhütte weiter spielen. Als wir aus der Bucht herausfahren, sichtet Natalya einen Delfin, der mehrere Meter hoch voll aus dem Wasser herausspringt. Dieser entscheidet sich jedoch des Bootes fern zu bleiben.
Nach unserem Eis-Erlebnis im Estero Peel hatten wir schon befürchtet, es gäbe hier auch viel Eis. Aber vor dem Gletscher Pio XI schwimmt eher wenig Eis, daher können wir leicht ganz nah an ihn herankommen. Als Willkommensgruß stürzt unter ohrenbetäubendem Donnern aus großer Höhe ein ganzes Fragment der Gletscherwand ins Meer. Wir stehen vor einer etwa 50 bis 100 Meter hohen und über vier (!) Kilometer breiten Eiswand und staunen. Die Windstille und die moderate Wassertiefe erlauben es uns das Boot unbeaufsichtigt vor Anker zu lassen.
Wir steigen ins Dinghy und fahren zu einer direkt vor dem Gletscher gelegenen Sandbank. Die Kinder rennen begeistert zwischen den Eisschollen. Arvid hat in weiser Voraussicht seine Schaufel mitgenommen und buddelt im feinen Sand. Wir laufen möglichst nah an den Gletscher heran und betrachten ihn in perfektem Sonnenlicht. Das Eis schimmert in zartem Blau. Die Kanten vieler Eisschollen sind vom Schwarz der Erde umrahmt, was Kontrast und Wirkung noch verstärkt.
Ganz geheuer ist es uns hier nicht. Das Beiboot liegt am Ufer und wir wissen nicht mit Sicherheit, ob es bei einem größeren Absturz nicht durch die entstehende Welle dort gekentert werden könnte. Jedes Knacken und Knistern macht uns ein wenig nervöser. Es kracht doch noch mal gewaltig! Eine große Masse Eis rutscht ins Meer und verursacht eine ordentliche Welle. Wie unter der Zeitlupe können wir die Bildung und die Ausbreitung der Welle beobachten. Es bildet sich ein Wall aus Wasser, der sich langsam fortpflanzt und sich in konzentrischen Kreisen immer weiter ausbreitet. Es dauert einige Minuten, bis die Welle unser Dinghy erreicht. Da die Absturzstelle sehr weit von uns entfernt ist, kommt nur eine leichte Brandung an. Wir packen trotzdem und verlegen das Dinghy an eine sichere Stelle. Das Boot ist jetzt durch die Landzunge vor Eis und Welle gut geschützt.
Von der neuen Position aus kommen wir sogar noch näher an den Gletscher heran. Natalya setzt sich verträumt vor die Kante und wartet, bis ein größerer „Zahn“ abbricht. Die Gletscherwand ist voll mit Rissen. Manche Stücke hängen sichtlich locker. Der Gletscher spielt heute mit uns Verstecken. Er ist so riesig, dass wir nicht schnell genug schauen können, um die jeweilige Abbruchstelle zu entdecken. Der Schall braucht ja auch immer einige Sekunden, bis er bei uns ist. Ein besonders großes Stück gleitet sanft und lautlos ins Wasser. Nur an der Welle danach erkennt man, was passiert ist.
Die Zeit verfliegt. Schon ist es Mittag und wir müssen zurück zur Outer Rim. Während Arvid seinen Mittagsschlaf macht, setzten sich Natalya und Thomas auf das Vordeck und trinken einen einmaligen Kaffee – mit Blick auf eine Gletscherwand. Die lockeren Zähne blieben weiterhin brav an ihren Plätzen. So viel wie bei Amalia kracht es hier nicht.
Am Nachmittag wechseln wir unsere Ankerposition. Es geht etwas weiter nach Süden, auch wieder direkt an die Gletscherwand. Hier hat der Gletscher in den letzten Jahren wohl enorm viel Material abgelagert. Die Seekarte zeigt noch Tiefen von 40 bis 50 Metern an Stellen, die sichtbar versandet sind. Wir ankern auf 15 Metern, noch weit genug von der Sandbank entfernt. Hier kommt der Fluss an Schmelzwasser unter dem Gletscher hervor und sprudelt ins Meer. Das wollen wir genauer ansehen. Also steigen wir wieder ins Dinghy und fahren zum Gletscher.
Hier fällt das Eis nicht mehr steil ins Meer, sondern bildet eine sanft ablaufenden Zunge. Anlanden wird zu einer Herausforderung. Das Wasser läuft extrem flach aus und ist grau von gelösten Sedimenten und dadurch absolut undurchsichtig. Natalya schraubt ein Paddel ab, um die Tiefe zu messen. Es bleibt sofort im Grund stecken – wir haben kaum 20 cm Wassertiefe. Natalya setzt vorsichtig einen Fuß auf den Boden. Dieser droht in einem weichem Schlamm tief zu versinken. Schnell wieder Fuß raus, bevor der Gummistiefel nicht mehr zu retten ist! Hier kommen wir nicht durch! Thomas fährt einen größeren Bogen und probiert es an einer anderen Stelle, weiter weg vom Gletscherfluss. Hier haben wir mehr Glück.
Die Kinder entdecken gleich am Ufer eine Riesenrutsche. Sie klettern auf die etwa 10 Meter hohe Moräne hoch und rutschen mit Sand und Geröll wieder herunter. Arvid hat wieder seine Schaufel dabei. Wir laufen direkt zum Eis. Wer will und kann, klettert auf die großen Eisbrocken am Fuße des Gletschers. Danach wollen wir den Fluss erforschen, der unter dem Gletscher heraussprudelt. Natalya läuft an einem kleinem unschuldig wirkenden Bächlein vorbei und bleibt plötzlich mit beiden Füßen bis zum Knie in einem Schlammtümpel stecken. Der unter dem Gletscher ausströmende Fluss ist zwar nicht tief, aber beeindruckend mächtig und breit. Mühelos bewegt er massive Eisbrocken und zerrt sie Richtung Meer. Die Brocken überschlagen sich, bleiben kurz im Schlamm stecken und werden von einer unerbittlichen Kraft wieder weiter gezogen.
Thomas entdeckt am Ufer zwischen zwei senkrecht stehenden Tentakeln des Gletschers eine Eishöhle. Wir schauen hinein, ihre Wände sind von tiefstem durchscheinenden Blau. Franka und Vsevolod klettern am Eis bergauf. Mit Gummistiefel bedarf es Fingerspitzengefühl. Franka rutscht aus, krallt sich in Eis fest und schaut erwartungsvoll zu den Eltern. Doch die Eltern haben auch heute ihre Steigeisen nicht dabei. Mit dem Hinweis den Hang einfach runter zu rutschen ist das Problem schnell gelöst.
Gegen Abend kommt etwas Wind auf, die Sonne droht sich hinter aufziehenden Wolken zu verstecken. Daher wollen wir wieder zurück zur Outer Rim. Das Wasser ist gestiegen, deshalb können wir mit weniger Aufwand aus dem seichtem Schlammwasser wieder herausfahren. Die Strecke zurück zur Ankerbucht dürfen wir sogar mit frischem Rückenwind segeln. Obwohl großer Teil des Himmels schon bedeckt ist, sehen wir immer noch die leuchtend weißen schneebedeckten Gipfeln von Monte Fitz Roy und Volcan Lautaro und eine im warmen Abendlicht blau schimmernde Gletscherwand von Pio XI. Das letzte Mal kracht es gewaltig bei einem Sturz. Dann biegen wir um die Ecke auf dem Weg zur Caleta Sally.