(27.01.2016 – Tag 616 – 11.524 sm)
Auf dem Weg von Caleta Mussel nach Caleta Playa Parda treffen wir nach einigen ruhigen Meilen auf einen unerwartet starken Wind. Der hält sich mal wieder nicht an den Wetterbericht. Schon wieder über 30 Knoten! Die mächtigen, steilen Wellen krachen mit gewaltiger Kraft gegen den Bug, die Outer Rim stampft sich fest. Nur mit deutlich erhöhter Drehzahl kommen wir weiter. Daher entscheiden wir uns für einen Zwischenstopp in der nahe gelegenen Caleta Notch.
Keine Bucht hier gleicht der anderen. Die Caleta Notch liegt in einem weiten, stark zerklüfteten Bassin. Die Felsen bilden mehrere kleine Insel, die meisten sind stark bewaldet. Teilweise gehen die Seitenwände senkrecht ins Wasser, weiter hinten bildet ein Fluss flache Sandstrände. Heute entscheiden wir uns gegen eine Landexkursion. Unser Dinghy streikt, besser gesagt dessen Motor. Seitdem Badetag im kalten Wasser der Caleta Coloane hat der Außenborder eine chronische Erkältung und ist oft nicht zur Arbeit zu bewegen.
Am nächsten Tag fahren wir zur nur 12 Meilen weiter gelegenen Caleta Playa Parda. Die Berge beiderseits der Magellanstraße sind vom Nebel umhüllt. An einer Stelle kann man das blaue Schimmern eines Gletschers erahnen. Man vergisst schnell, wie blau die Gletscher sind und kann sie immer wieder aufs Neue bewundern. Dessen Blauschimmer ist mit nichts zu vergleichen. Da es hier wesentlich wärmer ist als im Beagle Kanal, liegt die Grenze zum ewigen Eis nicht mehr auf dem Meeresniveau, sondern einige hundert Metern höher.
Die Wände der Caleta bilden einen Halbkreis. Ein großer Wasserfall rauscht den Berg herunter. Als wir am Strand anlanden, bilden die Kinder im Schlamm am Ufer die patagonischen Kanäle nach und ziehen durch sie ihre Schiffchen. Arvid probiert das Wasser, und berichtet dass es gut schmeckt, es enthält kaum Salz.
Die Vegetation am Ufer ist so dicht, dass man nach den ersten hundert Metern Kampf zur Erschöpfung kommt und aufgibt. Auch wenn eine Yacht und ihre Crew in der Magellanstraße von peitschenden, frontalen Winden, steilen kurzen Wellen und ausgiebigen Regen geplagt werden, werden die Segler durch die überwältigende, einmalige Natur entschädigt. Man könnte glauben, bei so viel Wind und Kälte kann kaum etwas gedeihen. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Bergflanken sind mit imposanten, etwa 15 Metern hohen Südbuchen bewachsen, in deren Schutz Sträucher, Farne und Moose Fuß fassen können. Die Moore sind regelrecht von Blumenteppichen bedeckt. Gerade jetzt im Sommer kümmern sich viele Vogelarten um ihre Küken. Viele haben von Menschen keine Angst, und lassen sich aus der knappen Entfernung in Ruhe beobachten.
Die wahren Schätze zeigen sich jedoch einem erst, wenn man Gummistiefel anzieht und durch die Wildnis streift. Natalya und Thomas wollen heute einen der umliegenden Berge der Caleta besteigen, um den Blick auf die Magellanstraße von oben werfen zu können. Anfangs führt der Weg durch die sehr dichte Ufervegetation: stachelige Sträucher und stark nachgebende Mooshügel. Der Boden ist derart luftig, dass man oft plötzlich bis zum Knie, oder gar bis zur Hüfte in einer Mulde steckt. Zum Glück ist das doch meistens trocken. Nur hier und dort plätschern kleine Bäche herunter. Trinkwasser muss man hier auf die Wanderung nicht mitnehmen. Das Wasser der Bäche, das sich aus Schmelz und Regenwasser zusammensetzt, ist sehr weich und schmeckt köstlich.
Wir sind schon fast an der Baumgrenze angekommen. Weiter oben siedeln sich die Wälder nur in windgeschützten Schluchten und Senken an, über die umliegenden Grashänge kann man sich dann leichter bewegen. In einem Busch hören wir einige Minuten dem Zwitschern zweier Vögel zu. Sie haben sich wahnsinnig aufgeregt, wahrscheinlich liegt ihr Nest in der Nähe. Wir kommen gut voran, und glauben nach etwa einer drei viertel Stunde vor uns schon den Berggipfel zu sehen. Als wir die Stelle erreichen, stellen wir fest, dass es kein Gipfel ist, sondern eine der mehreren Stufen, die zu der Spitze führen.
Der Boden wird nasser, an den flachen Ebenen bilden sich kleine Seen von einigen Metern Durchmesser. Oben ist es wesentlich windiger. Bei besonders heftigen Windstößen hebt sich das Wasser von der Oberfläche ab und fliegt in feinem Schleier durch die Luft. Am Ufer eines der Seen tritt Natalya fast auf einen großen braunen Vogel, der aufgeschreckt unter ihren Füßen hochfliegt. Vermutlich ein Ibis.
Als wir nach einem steilen Aufstieg uns in der Nähe des Gipfels eine Pause gönnen, bekommen wir Besuch. Drei Andenkondore steigen in spiralförmigen Bewegungen aus dem Tal auf, und sind jetzt direkt wenige Meter unter uns. Wir können ganz deutlich ihre charakteristische weiße Musterung auf der Oberseite der Flügel und die weiße Krause um den Hals sehen. Die majestätischen Vögel steigen noch ein Stück auf und kreisen über unseren Köpfen. Sie sind so nah, dass wir jede ihrer auf den Flügelspitzen gespreizten Federn und jede einzelne Kralle ihrer Füße sehen können. Lange bleiben sie bei uns, bis sie schließlich noch weiter aufsteigen und sich in dem Grenzenlosen des Himmels verlieren.
Das Wetter verwöhnt uns. Es regnet nicht, und häufig bricht sogar die Sonne durch die Wolken. Unter uns liegt die Magellanstaße. Auf dem gegenüber liegenden Ufer sehen wir in einen Kanal hinein, der hinaus auf den scheinbar unendlichen Pazifik führt. Wir sind fast ganz oben, und der Weg wird wieder beschwerlicher. Der Hang besteht hauptsächlich aus losem Geröll. Aber auch hier, im Reich der wilden Winde und Kälte entdecken wir eine für uns neue Blumenart.
Da da Weg zu beschwerlich und durch das lose Geröll nicht wirklich attraktiv wird, geben wir den Gipfel auf, und biegen nach Westen ab. Dort liegen in einiger Entfernung zwei Gletscher, die wir uns näher anschauen wollen. Aus ihrem Schmelzwasser bilden sich einige Seen, die wir schon weiter unten gesehen haben. Als wir uns dem ewigen Eis nähern, kommt unter dem Fuß des größeren der beiden wie ein seltener Edelstein ein kleiner smaragdgrüner See zum Vorschein. Wir setzen uns hin in der Windabdeckung eines größeren Granitbrockens und genießen das Panorama. Es wäre sicherlich toll noch bis zu diesem See zu wandern, aber so weit schaffen wir es heute nicht mehr. Von oben erscheint unser Boot so klein wie ein Spielzeug.
Der Abstieg verläuft anstrengender als erwartet. Wir halten uns zu weit westlich, und steigen zu schnell ab, bis wir irgendwann vor einer steilen Schlucht stehen und nicht weiter können. Also wieder den Berg hoch, bis zu einer Stelle, an der wir die Schlucht überqueren können. Spuren im Moos zeigen, dass wir nicht die ersten Wanderer sind, denen das so passiert. Natalyas Beine wollen gar nicht mehr mitmachen. Ein Bein hochzuheben wird zu einem Kraftakt. Nach vielen Höhenmetern, die uns ewig lang vorkommen, können wir wieder absteigen.
Hoch oben ist der Grund ziemlich glitschig. Oft rutscht man zusammen mit einem Grasbüschel oder Moos ab. Das ist schon ganz gut so, dass hier nicht so viele Menschen laufen. Die Vegetation hat dadurch genug Zeit um sich zu erholen. Auch wenn wir versuchen nur auf stabil erscheinende Oberfläche zu treten, sind kleine Schäden unvermeidlich.
Weil die Bäume am Ufer so dicht zusammenstehen, können wir nicht genau ausmachen wo unser Dinghy liegt. Als wir am Wasser sind, ist es doch die falsche Einbuchtung. Keiner hat Kraft wieder hochzuklettern. Also watet Thomas durch das eiskalte Wasser um das Schlauchboot zu holen. Es ist so tief, dass seine Gummistiefel unter Wasser verschwinden. Hose und Socken wurden natürlich zurückgelassen.
Die Kinder erwarten uns ganz ungeduldig. Sie wollen auch ans Land um ihre Kanäle am Strand weiter zu bauen. Thomas holt aus dem Gletscherfluss noch einige hundert Liter Trinkwasser mit unseren Kanistern. So können wir den Diesel für den Wassermacher sparen und die Umwelt schonen.
Am Abend wird alles zum Ablegen vorbereitet. Auch wenn die Bucht schön und einmalig ist, müssen wir wieder weiter ziehen. Die Zeit, die der kurze Sommer für die Navigation durch die Kanäle bietet, ist relativ begrenzt. Man muss auch die sich bietenden Wetterfenster nutzen. Keiner will in einem wütenden Sturm ab- oder anlegen, genauso wenig durch die wilden Wellen in der Straße stampfen. Das Wetter bestimmt in vielem unseren Rhythmus und die Geschwindigkeit unseres Fortbewegens. Im Vergleich zu vielen anderen Booten bewegen wir uns eher langsam und bleiben in vielen Buchten länger, wandern viel. Aber oft hat man trotzdem das Gefühl nur kurz die Oberfläche angekratzt zu haben.