(20.01.2016 – Tag 609 – 11.456 sm)
Unser erster Stopp auf dem Weg durch die Magellanstraße heißt Caleta Hidden. Kein Wunder, dass sie so heißt. Man sieht die Einfahrt kaum, muss über eine Meile einen engen Kanal durchfahren und an einer darin liegenden Insel vorbei. Dafür liegt man wunderbar in einem runden Becken am Ende der Bucht, vor einem Kieselstrand. Das Wasser in der Caleta ist meist tief braun. Was für ein Gegensatz zur Caleta Alakush. Dort konnten wir jeden Stein auch in 10 Meter Tiefe deutlich auf dem Meeresboden sehen, ebenso Seesterne und Krabben. Hier beobachten wir nur die auf der Oberfläche treibenden Quallen. Über die Gründe können wir nur Hypothesen aufstellen. Liegt es vielleicht an den Algen, an den gefürchteten mikroskopisch kleinen Organismen, die die Muscheln befallen? Viele Gebiete in Patagonien und Feuerland sind davon betroffen. Obwohl die Buchten voll mit großen Muscheln sind, darf man sie nicht essen. Wer vergiftete Muscheln verzehrt, stirbt mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb von 24 Stunden – ohne dass man medizinisch dagegen etwas unternehmen könnte. Alles was über offizielle Wege auf den Markt kommt, wird vorher auf den Krankheitserreger getestet. Es gilt ein strenges Sammelverbot für Schalentiere an der gesamten patagonischen Küste.
Das Wetter ist beständig, und wir nutzen die Gelegenheit und gehen wandern. Auch dieses Mal führt kein Pfad durch die Wildnis. Durch die fast undurchdringliche Vegetation kämpfend, versinken wir teilweise bis zur Hüfte in tiefen, von Gras verdeckten Löchern. Überraschender Weise ist es ziemlich trocken. Wir haben zwar Gummistiefel und Regenhosen an, werden aber nicht nass.
Nachdem das Uferwäldchen hinter uns liegt, wird der Weg wesentlich einfacher. Wir überqueren eine Sumpffläche und gelangen zu einem kleinem See. Unsere Kinder wollen unbedingt zum bzw. ins Wasser, aber die Ufer sind dafür zu steil. Vielleicht ist der Wasserstand im Moment zu niedrig. In einigen Hundert Metern schimmert schon der zweite See. Wir laufen dorthin und finden eine kleine Stelle mit Zugang zum Wasser. Arvid planscht mit Begeisterung im Wasser. Mittlerweile ist er vorsichtiger geworden und passt selber auf, dass seine Gummistiefel nicht sofort voll laufen. Vsevolod kämpft sich durch das dichte Unterholz zum gegenüber liegenden Ufer um dort Stöcke in den See zu schmeißen. Auf diesem Weg will er die Strömungsverhältnisse im See untersuchen. Franka bevorzugt künstlerische Aktivitäten. Sie sammelt Blumen und schmückt Zweige damit. Lachsfarbene glockenähnliche Blumen wachsen überall auf dem Boden.
Die Ufer der Caleta sind vom Wald gesäumt. Die Kinder sehen darin die Gelegenheit einen schönen Abend am Lagerfeuer zu verbringen. Sogar auf Arvid übt ein loderndes Feuer eine große Faszination aus. Dauernd fragt er, wann wir das nächste Mal ein Lagerfeuer machen können. Auch Stockbrot und Folienkartoffeln stehen bei ihm hoch im Kurs. Ausgerüstet mit einer Säge sammeln unsere drei Großen im Wald trockenes Holz, schneiden es in Stücke und legen mit Hilfe von Uwe eine richtige Feuerstelle zurecht. Am Abend sitzen wir am Feuer und genießen das Panorama mit den graublauen Bergrücken der Magellanstaße. Und was es hier gar nicht geben soll – es scheint die Sonne bis spät am Abend. Auch ohne Feuer herrscht T-Shirt Wetter. Während des Abends kommt die Flut dem Feuer immer näher, bis es irgendwann mal im Feuer zischt. Mit der Zeit ist die Feuerstelle ganz vom Wasser umzingelt. Lange nach dem die untere Glut gelöscht ist, brennen noch die oberen Scheite. Bis spät in die Nacht stehen wir und beobachten den Kampf zwischen Feuer und Wasser.
Gemeinsam studieren wir unseren Revierführer. Bevor wir in den geschützteren Nord-führenden Canal Smyth kommen liegen vor uns mehr als 100 Meilen durch die windreiche Magellanstraße. Sie verdankt ihre Existenz den Gletschern der letzten Eiszeit, die ein tiefes, teilweise über 1.000 Meter tiefes Tal durch die Spitze Südamerikas gepflügt haben. Die von pazifischem Ozean kommenden ohnehin schon kräftigen Westwinde beschleunigen sich hier noch zusätzlich durch den Tunneleffekt. Lange gerade Strecken begünstigen die Wellenbildung. Als ob das alles nicht genug wäre, kommen noch kräftige, unberechenbare Fallwinde – sog. willywaws – von den Bergflanken herunter.
Was das alles zusammen heißt, erleben wir in voller Pracht am nächsten Tag. Getäuscht durch ruhiges Wetter in der gemütlichen Caleta, holen wir die Landleinen ein und gehen Anker auf. Schon bei der Ausfahrt aus dem Fjord werden wir tüchtig von einer heranrollenden Welle begrüßt. Statt vorhergesagter 10 Knoten blasen satte 25 bis 30, und so wie das Meer aussieht, bläst der Wind schon lange. Die weißen Pferde auf den Wellenkämmen haben es heute eilig. Der Wind peitscht sie im schnellen Galopp durch das Wasser. Gischt hängt in der Luft und bildet einen feinen Nebel.
Motoren bei so einer Welle bringt wenig, da das Schiff immer wieder in die Welle einstampft und sich stark verlangsamt. Der Propeller kann seine Kraft nicht mehr voll entfalten, man wird langsam teilweise bis zum Stillstand und verbrennt unnötig Diesel. So segeln wir mit ordentlicher Seitenlage hart am Wind durch die aufgewühlte See. Das Wasser schäumt am Rumpf der Outer Rim. Alle paar Meter bricht sich eine Welle am Bug. Weil so eine Menge Wasser nicht schnell genug abfließen kann, steht die Leeseite des Decks ständig unter Wasser. Zur Abwechselung kommt ab und zu eine Welle auch von der Luv-Seite über. Wir können uns nicht erinnern, jemals so nass gesegelt zu haben.
Einer der aufgeschossenen Fallen am Mast löst sich und verteilt sich über das Vordeck. Bei dem Versuch sie auf dem tanzenden Schiff wieder einzufangen fliegen zwei Winschkurbeln über Bord. Es bleibt nur ein entsetzter und trauriger Blick hinterher.
Ein Frachtschiff kommt uns entgegen. Auch an seinem Bug brechen die Wellen. Es kommen die üblichen Fragen nach „wer? und wohin?“ Auch die großen Schiffe sind in Dienste der chilenischen Armada miteinbezogen. Es gehört zu ihren Pflichten die Informationen über Segelboote an die Armada weiter zu leiten. Von dem Frachter bekommen wir auch einen aktuellen Wetterbericht. „Jede Menge Westwind, Tendenz steigend!“ Am Nachmittag sollten es 35 Knoten werden. Würde unsere Reise nach Osten führen, was wäre das für eine Rauschefahrt! Wohingegen wir jede Meile Richtung Westen hart erkämpfen müssen. Obwohl unser Vorhaben heute früh war, 30 Meilen zur Caleta Gallant zu segeln, entscheiden wir uns in der nächsten erreichbaren Bucht – Bahia Woods – Schutz zu suchen. Das ist eine große Bucht mit genug Raum zum Swojen. Wir sind froh, dass wir bei dem Wind keine Landleinen ausbringen müssen. Und auch wenn es nicht einfach ist, eine geeignete Stelle für den Anker zu finden – entweder zu tief oder zu nah an den Steinen oder Flachstellen – liegen wir nach einigen suchenden Kreisen sicher vor Anker.
Am Nachmittag fahren Thomas und die zwei Jungs zum Strand. Während die Kinder am Strand buddeln, wandert Thomas zu Spitze der die Bucht unschließenden Halbinsel und bewundert die Natur. Es ist T-Shirt-Wetter. Keine Wolke am Himmel, die Sonne scheint wohltuend auf die Haut. Die die Magellanstraße säumenden Berge leuchten in warmen Farben, die Wälder zu ihren Füßen bilden einen angenehmen Kontrast und der weite Sandstrand rundet das Bild ab. Ruhig pätschert das tiefblaue Wasser. Vor Jahrtausenden wurden die Felsen an der Landspitze durch Gletscher rund geschliffen. Keine scharfe Kante stört das Bild. Kelp hat sich darunter angesiedelt, darüber steile Küsten mit Bäumen, die teils horizontal aus den Felsen herauswachsen. Alles ist friedlich, ruhig, und es gibt keine Spur von Zivilisation. Urlaub für die Seele.
An der äußersten Spitze entdeckt er einen angespülten warmen Overall. Sollte wohl einem Fischer über Bord geflogen sein. Ein Geschenk des Meeres als Ausgleich für die versunkenen Kurbeln, auch die Größe passt dem Skipper einwandfrei. Da die Bucht nicht wirklich vor allen Winden geschützt ist, übernachten wir hier nur ein mal und fahren am nächsten Morgen weiter. Für die nächsten Tage ist noch mehr Wind vorhergesagt. Ein enger, wohl geschützter Ort ist dann wesentlich sicherer und angenehmer.