(02.01.2016 – Tag 591)
Eigentlich ist die Abbruchkante des Holanda-Gletschers und sein Gletschersee nur gut 3 km von unserem Ankerplatz entfernt. Leider hat die Natur zu deren Erkundung dem Wanderer einige Hindernisse in den Weg gestellt. Der erste Versuch den Gletschersee zu erreichen ist gestern gescheitert. Heute versuchen wir es noch mal von der gegenüberliegenden Seite. Auf den ersten Blick sieht es nach einem leichtem entspanntem Ausflug aus. Der Revierführer empfiehlt, man solle in der Nähe des Flusses bleiben. Nach der bitteren Erfahrung von gestern bestehen die Kinder darauf, dass wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass es hier genug Wasser zum Trinken gibt, sondern eine Flasche Wasser mitnehmen.
Schon nach den ersten hundert Metern stellt es sich heraus, dass von einem entspannten Spazierengehen keine Rede sein kann. Der Pfad, der vom Strand ins Landesinnere führt, ist schnell zu Ende. Wir müssen unter umgestürzten Bäumen kriechen und dornigen Büschen ausweichen. Nach einer halben Stunden Kampf haben wir nicht mal 20% der Strecke zurückgelegt. Mit Arvid in der Kraxe ist der Weg nicht zu schaffen. Talora verschwindet fast bis zur Nasenspitze im hohen Gras. Nach kurzem Beratschlagen wird abgestimmt, wer umkehren und wer weiter kämpfen will. Natalya und Vsevolod gehen weiter, die restlichen Crewmitglieder drehen um.
Das Nordufer des Flusses ist steiler und dicht mit Wald bedeckt. Am Südufer haben die Biber solche Schäden eingerichtet, dass der Wald auf einem ganzen Landstrich abstarb. Durch ihre Dämme und Kanäle versumpfte die Gegend so stark, dass von den Bäumen nur die toten, gegen den Himmel ragende Stämme, übrig geblieben sind. An ihre Stelle kamen stachelige Büsche mit roten Beeren, dichte Sträucher mit weißen, margaritenähnlichen Blumen und hohes Gras. Die Vegetation ist so dicht, dass Vorankommen nur im Gras direkt am Ufer möglich ist. An manchen Stellen erleichtern Tierpfade das Gehen. Aber auch sie schützen nicht vor Versinken in tiefen Schlammlöchern. Um ihr Holz zu schippern bauen die Biber viele schmale Kanäle. Nachdem sie nicht mehr benutzt werden, verdeckt das Gras diese Gräben. Wer nicht jede Sekunde aufpasst, steckt schnell mit einem Fuß tief im Schlamm.
In einiger Entfernung entdecken wir die Familie von Mollymawk. Sie sind zu weit vom Ufer abgekommen und kämpfen sich zurück. Sie tragen kniehohe Gummistiefel, was für eine tolle Idee! Wir mit unseren Wanderschuhen sind hier definitiv schlechter dran. Gemeinsam geht es leichter vorwärts. Die Vorderen trampeln das Gras flach und erleichtern den Folgenden den Weg. Wir erreichen die Waldgrenze und denken, es wird bald leichter. Das Gegenteil ist der Fall. Der Wald ist noch dichter und nasser. Mollymawk will sich mit dem Anblick des Gletschersees nicht zufrieden geben, sie wollen auf den Gletscher hoch. Daher suchen wir nach einer Möglichkeit den Fluss zu überqueren. Ein umgestürzter Baum dient als Brücke.
Das Nordufer geht ziemlich steil nach oben. Die Bäume wachsen fast direkt auf den Felsen. Da es keine Erde gibt, das Schmelz- und Regenwasser aufnehmen kann, sickert es langsam durch die Vegetation und bildet die Grundlage für einen einzigartigen Lebensraum. Jeder freier Platz wird mit unterschiedlichen Moosarten bedeckt. Deren kleine Welt wirkt sehr filigran, geordnet und makellos. Jedes kleine Blättchen ist fein ausgearbeitet. Jedes kleine Blümchen ist perfekt. Zusammen bilden sie kugelförmige Strukturen, die kein Landschaftsarchitekt hätte besser anlegen können. An manchen Stellen plätschern Wasserfälle herunter. Die durch das Blätterdach kommende Sonnenstrahlen tauchen sie in ein warmes Licht ein. Das sanfte Grün der Moose leuchtet dabei noch intensiver. Als kleine Nebenwirkung versinken die Füße dabei bis zum Knöchel im Schlamm.
Endlich ist es so weit: wir sehen die blauen Eisspitzen des Gletschers. Der Weg ist aber noch nicht zu Ende. Nach einer kurzen Trinkpause am Ufer des Sees geht es weiter – bergauf zum Gletscherrand. In einem kleinem braunen Tümpel entdecken wir eine fast eine ausgewachsene Libellenlarve. Sie schlummert bewegungslos am Boden des Weihers und wartet darauf zu neuem Leben geboren zu werden. Die Vegetation verschwindet allmählich, bis nur die nackten Felsen, an denen sporadisch Flechten und dünnes Gras festhalten können, übrig bleiben. Geschafft! Wir stehen am Rande des Gletschers. Obwohl wir im Wald bei diesem schönen richtig sommerlichen Tag kräftig geschwitzt haben, ist es hier kalt. Jacken, Mützen, Handschuhe werden ausgepackt und angezogen.
Wir setzen uns zu einem wohl verdienten Lunch hin. Vsevolod ist glücklich Poppy, den Hund von Mollymawk, bei sich zu haben und krault sie ausgiebig. Das Essen wird durch lautes Grollen unterbrochen. Perfektes Timing – der Gletscher kalbt! Ein großer Brocken löst sich und stürzt mit lautem Getöse direkt vor unseren Augen ins Wasser. Das Wasser kocht und sprudelt, eine kleine Welle breitet sich aus und verteilt das Eis im Halbkreis um die Bruchstelle. An manchen Stellen ist das Eis intensiv blau, an manchen grau, ganz locker und wirkt wir ein Metallschwämmchen zum Töpfekratzen. Wir spekulieren darüber woran das liegt, und vor wie vielen Jahren es als Schnee oben auf dem Berg angekommen ist. Genau weiß es keiner von uns.
Die junge Generation von Mollymawk steigt auf den Gletscher. Steigeisen haben sie heute nicht dabei, nur Gummistiefel. Wir machen uns Gedanken um den Rest unserer Familie, die sich um uns Sorgen macht und gehen zurück. Es ist nicht so einfach den Weg runter zum Ufer zu finden. Ein paar Mal landen wir in Sackgassen. Zurück am Gletschersee badet Nick im eiskalten Wasser. Ganz entspannt und vergnügt schwimmt er zwischen den Eisbergen und vesucht einen davon zum Kentern zu bringen. Natalya schafft es gerade ihren linken Fuß ins Wasser zu stecken. Mann, ist das kalt!
Auf dem Rückweg durch den Wald haben wir das Gefühl, dass in der Zeit unserer Abwesenheit die Vegetation noch kräftig zugelegt hat. Sie erscheint noch dichter, undurchdringlicher und stacheliger als zuvor. Die Pfützen wirken tiefer, die Dornen spitzer. Mache Pflanzen sind so hinterhältig, dass sie uns an den Füßen mit ganzer Kraft zurück in den Wald ziehen. Über die Baumbrücke geht es zurück in die Ebene. Die Sonne steht niedrig, es ist schon Abend. Wir kommen an vielen frischen Nagerspuren vorbei und halten nach Bibern Ausschau. An einer Lichtung liegt ein sauber vorbereitetes, an beiden Enden keilförmig abgeschnittenes Holz. Wahrscheinlich haben wir die Tiere bei der Arbeit gestört. Kurz darauf entdecken wir zu unseren großen Freude tatsächlich einen im Fluss schwimmenden Biber. Er hat es eilig und versteckt sich in seiner Burg.
Die ganze Landschaft wirkt so ursprünglich und unberührt, wie man es sich von außen nur schwer vorstellen kann. Es gibt keine Menschenspuren, keine Straßen, keine Wege und kein naturfremdes Geräusch. Ziemlich müde, die Beine halten uns kaum, voll beladen mit diesen einzigartigen Eindrücken kommen wir zurück zum Strand.
PS: Einen herzlichen Dank an Jill von der SY Mollymawk (http://www.yachtmollymawk.com/) für die tollen Bilder, die sie uns dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat!