(Tag 508)
Seit langem hatten wir den Wunsch, einen relativ unberührten tropischen Regenwald zu sehen. Dass er in Südamerika so schwer zu finden sein würde, hatten wir nicht vermutet. In Brasilien haben wir nur einige sehr kleine als Nationalparks eingezäunte Gebiete gesehen. Alles andere ist der extensiven Landwirtschaft zum Opfer gefallen. Jedes Jahr werden in Brasilien mehr als 2 Millionen Hektar Wald gerodet. In zehn Jahren entspricht das ungefähr der Fläche Deutschlands. In Brasilien sind jedoch schon einige Organisationen aktiv, die mit der Wiederbelebung des Waldes und Wiederaufforstung einiger gerodeter Flächen begonnen haben. Die Lage in Paraguay ist um einiges dramatischer. Hier wurde in der Vergangenheit in noch höherer Geschwindigkeit abgeholzt, so dass jetzt so gut wie kein zusammenhängender Wald verblieben ist. Indianern werden ihre Stammesgebiete streitig gemacht, illegal entwendet und in Ackerland verwandelt. Die auf dieser Weise gewonnene Flächen dienen der Viehwirtschaft und dem Sojaanbau, hauptsächlich für Biodiesel und Kraftfutter für Europa. Die um ihr Land gekommene indigene Bevölkerung haust in ärmlichen Verhältnissen auf einem oft nur 100 Meter breitem Streifen zwischen den Zäunen der Viehweiden auf der einen und der Durchgangsstraße auf der anderen Seite. Kein Stromanschluss, kein Wasser, keine Müllabfuhr.
Wir haben nach langem Studium der Reiseführer einen kleinen Park – Reserva de Bosque Mbaracayu – im Nordosten des Landes ausfindig gemacht, in dem noch intakter ursprünglicher Regenwald zu sehen ist. Dorthin wollen wir fahren. Von Conception aus kommen wir bis nach Curuguaty. Das liegt am Ende der Teerstraße und 62 km vom Park entfernt. Wir übernachten in einem Hotel, das auch bei Lastwagenfahrern beliebt ist. Links und rechts von uns parkt ein Lastwagen. Arvid ist überglücklich als einer der Fahrer es ihm erlaubt, einen Lastwagen zu lenken. Hinter dem Steuerrad hüpft der kleine Kerl vor Freude im Takt der laut ertönenden Hip-Hop-Musik. Die Lastwagenfahrer finden den neuen Fahrer auch witzig. Thomas unterhält sich währenddessen etwas mit ihnen – so gut es eben ohne richtige Spanischkenntnisse geht. Es stellt sich heraus, dass sie viel in der Gegend unterwegs sind. Auf unseren Plan, zum Park zu fahren, angesprochen warnen uns einstimmig davor, die Fahrt über die Erdstraße zu versuchen. Wir kämen mit dem Auto garantiert nicht durch. Der leichte Regen in den letzten Tagen hätte die Straße unpassierbar gemacht.
Was sollten wir jetzt tun? Umdrehen und auf Besuch des Parks verzichten? Frust! Erst mal eine Nacht drüber schlafen. Am Morgen entscheiden wir dann, es trotzdem zu versuchen. Wir verproviantieren uns für ein paar Tage und fahren nach Norden aus Curuguaty heraus. Gleich am letzten Haus beginnt die Erdstraße. „Erde“ trifft es aber nicht richtig. Es handelt sich eher um eine rostbraune lehmige Masse, die zu einer Straße zusammengeschoben ist. In der Mitte ist die Fahrbahn erhöht, so dass Regenwasser leichter in die beidseitig der Fahrbahn angelegten Gräben abfließen kann. Und genau das ist das tückische an der Straße. Bei Regen bildet sich an der Oberfläche eine schleimige, rutschige Schicht flüssigen Lehms, der verhindert, dass Autoreifen irgendwie Halt finden. Fängt man dann zu rutschen an, zieht einen die schräge Fahrbahn in einen der beiden Gräben. Da kommt man dann nicht mehr raus.
Wir haben Glück. Es hat über Nacht nicht geregnet und der Regen vom Vortag ist schon an vielen Stellen getrocknet. Nichtsdestotrotz rutschen wir immer stärker, je weiter wir fahren. Einmal bleiben wir kurz stecken, können uns aber schnell wieder befreien. Insbesondere bei Gegenverkehr wird es brenzlig, da man dann näher an den Graben fahren muss. Ab und zu fahren wir durch tiefe Pfützen – manche bis zu einem halben Meter tief. Nach den ersten Kilometern ist Thomas schon recht verschwitzt vom Kämpfen am Steuer. Würde nicht Natalya so Druck machen, würden wir umkehren. Nach unglaublichen 35-40 Kilometern wird die Straße dann endlich besser. Wir tanken nochmal auf und bringen die letzten 20 Kilometer hinter uns. Wir haben es tatsächlich geschafft … aber wie unvernünftig das war, wird sich später noch zeigen.
Für zwei Tage sind wir die einzigen Besucher im Park Bosque Mbaracayu. Schon an den Wänden unseres Hotels entdecken wir einige interessante Insekten, die wir vorher noch nie gesehen haben: einen großen grünen Grashüpfer mit zarten rosa Flügeln, unterschiedliche Schmetterlinge und Nachtfalter. Talora hat keine Berührungsängste und sammelt Käfer. Auf der Wiese vor unser Unterkunft entdecken Thomas und die Kinder ein Chamäleon oder so was ähnliches, das sich bei den vorherrschenden kühlen Temperaturen wie im Zeitlupe bewegt. „Komm mir nicht zu nah!“ faucht er Thomas an.
Als wir den Wald betreten sind wir vom Waldzustand positiv überrascht. Der Pfad führt durch den Dschungel, wie in einem Bilderbuch. Im höchsten Stockwerk herrschen alte Bäume mit riesigen Kronen. Ihre Stämme sind so dick, dass man sie nur zu dritt oder zu viert umarmen könnte. Überall sind Lianen und Luftwurzeln, sie kriechen den Himmel empor, hängen hinunter und lassen so gut wie kein Licht bis zum Boden durch. Eine Lianenart ist so massiv, dass sie nur auf den dicken alten Bäumen wachsen kann. Ihr Stamm ist etwa so dick wie ein Oberarm, die Blätter sind gigantisch. Natalya entdeckt in luftiger Höher eine zarte gelbe Orchidee, voll mit Blüten.
Der Weg führt weiter entlang eines kleinen Flusses. Moskitos kommen in großen Horden und erfreuen sich über unser Besuch. Wir bewegen uns vorsichtig, um nicht auf eine unaufmerksame Schlange zu treten. Franka übernimmt die Führung. Ein handtellergroßer hyazintenblaue Schmetterling flattert ihr entgegen. An einem der Bäume ist ein Schild angebracht: „Die unter der Rinde lebenden Maden dienen der indigenen Bevölkerung als Proteinquelle“. Irgendwie hat heute keine wirklich Lust auf die Kostprobe. Der ganze Pfad ist mit reifen und überreifen Orangen übersät. Am Anfang denken wir, es seien Menschen gewesen, die die Tiere so für die Touristen anlocken wollen. Später entdecken wir, dass es wilde Orangen sind, die überall im Wald wachsen.
Es ist sehr ruhig im Wald. Nur ab und zu hören wir einen „Ting, Ting“ eines Glockenvogels. Wir hören ihn so nah, er ist aber nichts zu sehen. Wie kann sich ein weißer Vogel unter den grünen Blättern nur so erfolgreich verstecken? Wenn wir schon einen großen weißen Fleck nicht entdecken können, wollen wir nicht wissen, an wie vielen Schlangen wir vorbei gelaufen sind ohne sie zu entdecken.
An einem der Bäume vor Hotelrezeption sind bis zu etwa 15 Meter Höhe Reifen zum Hochklettern aufgehängt. Unsere Kinder handeln mit uns aus, dass sie bis zum vierten Reifen hochklettern können. Als das Empfangsmädchen sie weg scheucht, sind sie ganz traurig und beschweren sich bei mir über unangebrachte Sicherheitsmaßnahmen. In fünf Minuten ändert sich die Stimmung aber radikal. Sie entdecken ein anderes Mädchen, das für sie Klettergurte und Helme holt. Sie dürfen bis nach ganz oben hochklettern und von oben im freien Fall springen. Und das so lange sie wollen. Wir leihen zwei Fahrräder und wollen damit durch den Wald fahren. Thomas ist das Fahrrad viel zu klein, und Natalya fährt allein. Ihr Fahrrad kommt aber auch nicht aus dem ersten Gang raus, so dass beide Fahrräder wieder schnell zurück sind. Zur großen Freude unser Kinder. Vsevolod fährt auf der Wiese herum bis es dunkel wird.
Im Nationalpark betreibt die Gründungsorganisation eine Mädchenschule für indigenen 14 bis 20 jährige Mädchen aus dem umliegenden Gebiet. Sie helfen uns im Park zurecht zu kommen und bereiten für uns ein Abendessen vor. Sogar das Thema „Vegetarisches Essen“ ist im Gegensatz zum Rest Paraguays kein großes Problem. Die Mädchen sind sehr freundlich und aufmerksam, und versuchen uns den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, ohne aufdringlich zu sein. Das was wir von der Schule sehen und lesen macht auf uns einen sehr guten Eindruck. Die Mädchen bekommen einen Abschluss im „Environmental Scince“ und ihre Ausbildung reicht mit Sicherheit darüber hinaus, was ihre Familien für sie hätten leisten können und wollen. Nachdem unsere Kinder mit Klettern fertig sind, klettern sie mit viel Spaß und Elan selber, fahren auch Fahrrad und brechen mit ihrem ganzen Verhalten auch ziemlich jedes Klischee, die man über Indianer im Allgemeinen und Frauen im Besonderen im Kopf hat. Dieser Park und die Mädchenschule ist mit Abstand der erfolgreichste Projekt der Entwicklungshilfe, das wir bis jetzt gesehen haben.
Als es dunkel wir gehen wir bewaffnet mit einer Taschenlampe noch ein mal in den Wald. Die ganze Wiese ist mit Glühwürmchen voll. Arivd ist begeistert: „Licht blinkt!“ und hat überhaupt keine Angst vor Dunkelheit. Ganz im Gegenteil, der Kleine will alleine laufen. Dafür sind wir aber nicht entspannt genug und Arvid muss auf Papa’s Schultern sitzen bleiben.
Am nächsten Morgen probieren wir einen anderen Wanderweg aus. Über eine schmale Hängebrücke überqueren wir den kleinen Fluss. Das braune Wasser fließt langsam und still. Es wäre sicherlich schön im Kanu den Fluss runter zu fahren, aber Thomas will nicht von den ganzen Moskitohorden, die durch Mangel an Touristen ganz hungrig herumschwirren, ausgesaugt werden. Der Weg führt weiter entlang eines Sumpfes. Als ein großer Wasservogel im Dickicht auffliegt, schrecken wir uns zusammen. Die nächste Hängebrücke ist vom Wasser überschwemmt. Keiner will aufgeben. Nach kurzem Zögern – was mag da im braunen Wasser alles drin sein – ziehen wir die Schuhe aus und waten zum Teil knietief auf den glitschigen Holzplanken durchs Wasser. Wie blöd, dass 100 Meter nach der Brücke trotzdem Schluss ist. Der ganze Weg ist überschwemmt und hat sich in einen breiten Bach verwandelt. Wir laufen wieder zurück, wandern noch mal auf dem Weg von gestern weiter, und entdecken auch auf dem alten Weg neue Sachen.
Weil es noch nicht geregnet hat und der Wetterbericht nichts gutes für die nächsten Tage verheißt, entscheiden wir uns schnell, dass wir umgehend zurück fahren. Als Erinnerung an den Wald kaufen wir uns einen Holzjaguar, der schnell auf den Namen „Mbaracayu“ getauft wird. Während der Rest der Familie schon im Auto sitzt, entdeckt Natalya in den Bäumen einen Tukan. Schade, dass wir so ein schönes Gebiet nur am Rande und zu kurz gesehen haben, aber die Gefahr hier für Wochen stecken zu bleiben ist uns doch zu hoch.
Die 62 km auf der Lehmstraße müssen wieder nach Süden gefahren werden. Als wir die ersten 20 hinter uns haben, fängt es mit dem Regen an. Es regnet gar nicht viel, es ist für tropische Verhältnisse eher ein leichter Regen, und mit Gewitterregen wie wir ihn in Asuncion erlebt haben gar nicht zu vergleichen. Aber die Straße wird dadurch trotzdem immer schlimmer. Der ganze Fahrbahn ist jetzt mit einer braunen Schmierschicht bedeckt, auf dem unser Auto kaum mehr Halt findet. Als gutes Zeichen ist zu bewerten, dass uns immer noch vereinzelt Autos entgegen kommen. Es wird aber wesentlich weniger, als auf dem Hinweg. Bei so einem Wetter will keiner freiwillig raus fahren.
In einer besonders matschigen Schlammpfütze, die sich über die ganze Straßenbreite erstreckt, verliert unser Auto den Halt, der Heck bricht aus, die Hinterachse schiebt weiter vorwärts und das Auto bleibt quer zu der Fahrtrichtung mitten im Schlamm stehen. Während Thomas versucht durch Hin- und Herschaukeln das Auto zu befreien, überlegt Natalya panisch, wo sie einen Traktor suchen könnte, und wie sie es dem Treckerfahrer mit ihrem bescheidenen Spanisch vermittelt, dass wir dringend Hilfe brauchen. ADAC hat man hier noch nicht erfunden. Nach qualvollen zehn Minuten bekommt Thomas das Auto doch aus dem Schlamm heraus. Das Getriebe hat nun eine deutlich höhere Temperatur. Wir lassen uns von einem einheimischen Geländewagen überholen und bleiben ihm dicht auf den Fersen. Der Fahrer wird sich schon auskennen. An manchen Stellen können wir beobachten, in welchen Schlangenlinien sich sein Wagen bewegt – und er hat deutlich breitere und bessere Reifen als wir! Wir zählen gespannt die Kilometer der Matschstraße, die wir noch vor uns haben und entsprechend groß ist die Freude, als wir festes Teer unter den Reifen hören. Das Abenteuer hätte nämlich auch deutlich schlimmer ausgehen können.
PS. Die Recherchen im Internet haben ergeben, dass unser Jaguar auf deutsch übersetzt der „Übeltäter des Waldes“, oder abgekürzt der „Übelkater“ heißt. Das passiert, wenn man sich so schnell auf einen fremdsprachigen Namen einlässt.
Klasse!!!