(Tag 504)
Unsere Fahrt geht weiter in den trockenen Chaco, also nach Norden. Die Straße von Pozo Colorado nach Filadelfia eignet sich gut als Vorbereitung auf eine Rally. Tiefe Schlaglöcher übersäen wahllos verteilt die Fahrbahn. Teilweise türmen sich die herausgebrochenen Teerbrocken zu großen Haufen auf. Da die Fahrbahn so gut wie leer ist, versucht man rechtzeitig auszuweichen und fährt in einem Zickzackkurs. Die Passagiere auf der Rücksitzbank werden hin und her geschleudert. Manchmal landet das Auto doch in einem Schlagloch, es ist ein tiefes, sattes „Bumm“ zu hören und der Autofahrer freut sich über den großen Federweg und dass die Achsen doch noch ganz sind. Das war gestern schon die richtige Entscheidung nicht durch die Nacht zu fahren.
Da es keinen bequemeren Platz für das Frühstück gibt, setzen sich unsere Kinder auf das Tor einer Estancia. Beim Essen hören wir der Kakophonie der Vögel und Insekten in den herumliegenden Sümpfen zu. Die Straße ist zwar kerzengerade, aber wir fahren weiterhin in den Schlangenlinien. Erst kurz vor Filadelfia wird die Straße besser. Es sind wieder Häuser entlang der Straße erkennbar, und sie sehen ganz anders anders aus als die Häuser anderswo in Paraguay: solide geräumige Ziegelsteinbauten, mit großen Fenstern, die durch Schatten der Bäume vor Sonne geschützt sind, mit großen sauber gestampften Höfen und dicken Autos, die in jeder Einfahrt parken.
Nur die Hauptstraße von Filadelfia – die Avenida Hindenburg – ist geteert. Die restlichen Straßen bestehen aus verdichtetem Lehm. Sie müssen nach jedem heftigen Regen wieder geglättet werden, damit sie befahrbar bleiben. Der Lehm wird beim Regen so glitschig, dass nicht mal ein Vierradantrieb dagegen etwas ausrichten kann. Die Autos rutschen von der Fahrbahn ab und spätestens wenn der erste quersteht ist der der ganze Verkehr blockiert. Zum Glück sind die Straßen jetzt trocken, so dass wir uns überall uneingeschränkt bewegen können. Die Sonne brennt unbarmherzig und starker Wind peitscht den Staub durch die Stadt. Im Schatten sind es über 40°C. Die ganze Umgebung vermittelt einen lebensfeindlichen Eindruck, im Vergleich dazu wirkt sogar der tiefste Dschungel mit allen seinen Schlagen und Spinnen lebensfreundlich.
Es kommt noch dazu, dass in Chaco keinerlei Steine vorkommen. Sogar die Steinzeitmenschen hatten Steine aus Bolivien importieren müssen. Das macht jedes Bauprojekt zu einer Herausforderung. Nichtsdestotrotz haben hier mennonitische Auswanderer in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ihre Kolonien und die dazugehörigen Industrien aufgebaut, die zu den erfolgreichsten in Paraguay gehören.
Die Geschichte der Mennoniten erinnert an die Geschichte der Juden. Seit der Entstehung des Glaubens wurden sie oft aus ihrem Land vertrieben. Von Holland nach Deutschland, aus Deutschland nach Russland. Nicht nur ihr Glauben, sondern auch ihr Reichtum war eines der Gründe, warum sie in den 1930er Jahren Russland in großer Not verlassen mussten. Weil der neue russische Staat dringend sein Image aufpolieren musste, bekamen auf einmal etwa 6.000 Mennoniten eine Ausreiseerlaubnis. Die vielen Zurückgebliebenen sind durch Hunger und Kälte in den russischen Straflagen ums Leben gekommen.
Im Gegensatz zu den Juden haben die Mennoniten kein „gelobtes Land“, sondern nahmen ihre Heimat stets mit sich. Ihr Interesse galt Paraguay, das westlich des Rio Paraguay so gut wie nicht besiedelt war. Sie schlossen mit dem Staat einen Abkommen, der ihnen große Landflächen und einige Privilegien zusicherte. Das vertrieben Volk bekam ein neues Land und der Staat hoffte, seine Präsenz in den Gebieten dadurch zu festigen. Es ist nicht viel Zeit vergangen, bis ein Krieg durch das Land rollte. Angezündet durch die Vermutung, die Gegend besäße große Ölvorkommen, gerieten die Nachbarländer Bolivien und Paraguay um ein trockenes Stück Land in einen Krieg, in dem Hunger und Durst mehr Opfer forderten als Waffen. Die Mennoniten, die zu der Zeit selber noch recht arm waren, versorgten die paraguayischen Truppen, wodurch ihr Allaince zusätzlich befestigt wurde.
Seitdem ging es wirtschaftlich immer aufwärts. Um Landwirtschaft zu ermöglichen, mussten erst zuverlässige Wasserquellen gefunden werden. Grundwasser ist meist salzig. Die Menge an süßem Grundwasser reicht nicht aus, um Viehzucht zu betreiben. Deswegen wurden in den Niederungen Gruben ausgehoben um Regenwasser zu sammeln. Die Menge müsste für die Trockenzeit, die drei bis sechs Monate andauert, reichen. Heute noch hat jedes Haus in Filadelfia seine eigene Wasserversorgung.
Die isolierte Lage und der gemeinsame Glauben haben die Auswanderer eng zusammengehalten und zu einem anhaltenden wirtschaftlichem Erfolg geführt. Beim Anblick eines Hauses und Grundstückgröße würde manch ein Deutscher neidisch. Die Regale im Supermarkt sind auf deutsch beschriftet, und es gibt auch neben den selbst hergestellten Lebensmitteln auch „richtig“ deutsche, die auch trotz der enormen Entfernung kaum teurer sind. Lange Zeit war der Staat in Chaco gar nicht präsent. Die Mennoniten mussten selber Straßen und Schulen bauen, über Recht und Unrecht entscheiden und für Ordnung sorgen. Vor allem der alten Generation fällt es heute nicht leicht anzuerkennen, dass nun diese Aufgaben durch den Staat übernommen werden. Es ist auch nicht mehr so, dass die Mennoniten nur unter sich bleiben können. Angezogen durch die hervorragende Infrastruktur kommen Paraguayer und Brasilianer nach Filadelfia um sich dort niederzulassen. Sie übernehmen einfache Jobs im Dienstleistungssektor – in den Supermarkts, Tankstellen, Hotels. Es herrscht aber eine harte Trennung. Wer „fremd“ heiratet, muss die Gemeinschaft verlassen. Daher haben viele der mennonitischen Bevölkerung ganz helle Haut, blonde Haare und blaue Augen. Schaut man die Bevölkerung genauer an, stellt man fest, dass sie dringend neues Erbgut brauchen.
Im Gegensatz zu den Amish in Amerika setzen die Menonniten in Filadelfia auf Bildung und modernste Maschinen und Technologien. Sie schicken ihre Kinder zum Studieren nach Deutschland oder Kanada. Nach ihrer Rückkehr bekommen die Kinder gute Arbeitsstellen.
Die Mennoniten versuchen immer noch ihre Gemeinschaft möglichst geschlossen zu halten. Fremde werden als Gemeindemitglieder nicht gern gesehen. Sie könnten die ganzen Strukturen durch Hinterfragen zum Wackeln bringen. Bei Themen wie Gleichberechtigung der Frauen herrscht ein sehr traditionelles Weltbild. Das Recht zu entscheiden gehört dem Mann. Die Frau soll sich fügen. Wird ein Mädchen schwanger, wird es mit Scham von ihrem Arbeitgeber entlassen und aus der Gemeinde ausgestoßen. Der Vater des Kindes ist quasi nicht präsent und unschuldig.
Auch auf der wirtschaftlichen Ebene übernimmt die Kooperative alle Entscheidungen. Nichts darf ohne ihren Segen geschehen. Man kann sich kaum vorstellen, wie weit die Kontrolle der einfachen Bürgern geht. Da man im Supermarkt eher bargeldlos durch das eigene Konto bezahlt, kann man ganz schnell herausfinden, wer wann was und wie viel davon gekauft hat. Wer sich nicht an die Regeln der Gemeinde hält, wird vor den Kirchenrat bestellt, um sein Verhalten zu rechtfertigen bzw. Zurechtweisung zu erhalten. Bessert sich die Lage nicht, wird über die Kooperative wirtschaftliche Macht ausgeübt. Es droht ein Verlust der Arbeitsstelle, Sperrung des Bankkontos und Ausschluss aus der Kirchengemeinde.
Es ist aber so gut wie unmöglich in der modernen Welt mit all ihren Informationsmedien die Kinder so zu erziehen, dass sie sich wirklich freiwillig in diese Strukturen fügen. Die junge Generation der Mennoniten sieht es mit den Regeln nicht mehr so streng. Die Grenze zwischen den Parallelgesellschaften weicht langsam auf. Die deutschen Wurzeln sind den Mennoniten wichtig, aber ihre Gegenwart und Zukunft gehören Paraguay. Jeder, der hier geboren wurde, besitzt einen paraguayischen Pass. Dem Staat Paraguay ist ihre exklusive Präsenz in Chaco nicht mehr als so wichtig an. Somit müssen sie sich damit abfinden, dass sie ihre Privilegien abgeben und genauso viele Rechte in diesem Land haben wie die anderen Bürger. Ihr Wohlstand wird von manchen Politikern im Wahlkampf wieder als Zielscheibe genutzt und der einfachen indigenen Bevölkerung als Wurzel allen Übels vorgeführt: „Man müsse den Deutschen ihren Luxus nehmen, nach der Umverteilung reicht es dann für alle!“. Uns so beginnt die Geschichte sich zu wiederholen …