(Tag 502)
Paraguay ist eines der am dünnsten besiedelten Ländern Südamerikas. Weniger als sieben Millionen Einwohner bewohnen eine Fläche, die größer ist als die Deutschlands und der Schweiz zusammen. Der Großteil davon konzentriert sich im Großraum Asuncion. Im Norden und Nordwesten des Landes – und das ist die Hälfte der Gesamtfläche des Landes – gibt es nur wenige isolierte kleine Siedlungen, die entlang der einzigen Teerstraße liegen. Hier hat man immer noch die Möglichkeit den Reichtum der Natur zu erleben. Allerdings ist die Infrastruktur in dünn besiedelten Gegenden eher rudimentär und auf die Bedürfnisse der Landwirte und nicht auf die der Touristen abgestimmt. Viele Straßen bestehen aus zusammengeschobenem Lehm und sind nach einem Regen unpassierbar. Manche Gegenden sind nur wenige Monate im Jahr überhaupt über Straßen erreichbar. Wer durch das Land reisen möchte, braucht mindestens ein ordentliches Auto mit Vierradantrieb.
Besonderen Reiz hat der Nordwesten von Paraguay durch den Chaco. Der Chaco ist eine Region geprägt durch Trockenwäldern und Dornbuschsavannen, die sich vom Norden Argentiniens über Paraguay bis hinein nach Bolivien. Über hunderte von Kilometern gibt es keinen Berg, keine Erhebung, so gut wie keine Schwankung im Bodenniveau. Alles besteht aus lehmiger Erde, die keinerlei Wasser durchlässt. Wenn Regen fällt, dann sammelt sich alles Wasser an der Oberfläche, flutet das Land und verwandelt alles in eine schlammige rotbraune Masse. In kleinen Senken bilden sich Tümpel von 50-100 cm Tiefe, die alles Leben in der Gegend speisen. Es gibt extrem viele Insekten, von denen sich unzählige Vögel ernähren. Viele Vogelarten kommen hierher zum Überwintern, so z.B. Flamingos aus Argentinien und Chile. Außerdem laufen Tapire, Jaguare, Pumas, Ameisenbären etc. durch die Wälder. Ein Naturparadies, das wir unbedingt sehen wollten.
Nach einem langen Kampf und vielen Absagen, einen Geländewagen zu mieten, fanden wir schließlich eine Möglichkeit ein Fahrzeug zu bekommen. In ganz Paraguay gibt es nur in Acuncion und Ciudad del Este überhaupt Mietwagen (und leider zu sehr hohen Preisen), was auch bedeutet, dass man sie dann auch an die Anmietstation wieder zurückbringen muss. Kein der Wagen darf über irgendeine Landesgrenze fahren. Noch einmal lernen wir zu schätzen, wie leicht das Reisen im Europa mit der Öffnung der Grenzen geworden ist. Da ortsunkundige Fahrer eher eine Ausnahme sind, müssen wir auch viele Tankstellen abklopfen bevor wir eine Straßenkarte zu kaufen finden. Erst am späten Nachmittag sind wir mit allen Vorbereitungen fertig und fahren Richtung Chaco, überqueren den Paraguayfluss, passieren zwei kleine eher favellenartig wirkende Dörfchen.
Danach endet die Zivilisation schlagartig, und eine kerzengerade, in der Hitze flimmernde Teerstraße, führt durch das große, scheinbar grenzenlose Nichts des Chaco Bajo – der „feuchte“ Chaco. Menschenpräsenz kann man nur an dem Weidezaun erahnen, der sich beidseitig des Weges erstreckt. Das meiste Land gehört in Paraguay den Großgrundbesitzern. 40-50.000 Hektar Land in Hand eines Besitzers ist keine Ausnahme sondern die Regel. Im Chaco wird auf diesen immensen Flächen Viehzucht betrieben. Tausende von Rindern sind irgendwo auf diesen riesigen Flächen verteilt. Man sieht ab und zu ein Paar Kühe, die unter den Palmen grasen, bekommt aber nie das Gefühl dafür, was für Herden hier gehalten werden. Die Landschaft ist so unwirklich, dass sie eher an die Kulisse eines Computerspiels erinnert. Alle Palmen sehen gleich aus, und sind wie scheinbar zufällig, aber ordentlich gleichmäßig über die Ebene verteilt. Was wir aber sehr positiv empfinden ist, dass jeder auf seinem Land eine „Reserve“ erhalten muss, die 25% der Gesamtfläche des jeweiligen Grundstücks umfasst. Diese Fläche muss zusammenhängend sein und darf nicht bewirtschaftet oder anderweitig genutzt werden. Dies soll die Natur im Chaco erhalten.
Vor einigen Tagen hat es hier ordentlich geregnet und die Halbwüste strotzt vor Leben. Seerosen-ähnliche Wasserpflanzen bedecken die Oberfläche der unzähligen kleinen Wasserstellen. In diesem Tümpeln fischen große Gruppen von Störchen, Ibisen, Kranichen und anderer großer Vögel nach Essbarem. Das Surren und Zirpen von Insekten ist ohrenbetäubend. Hier wird garantiert kein Vogel verhungern. Auf den Strommasten sitzen große Greifvögel und warten auf ihre Beute. Schopfkarakaras entsorgen auf der Straße alles was zu einem unglücklichem Zeitpunkt die Fahrbahn queren wollte und riskieren dabei selber zu einer Mahlzeit für ihre Artgenossen zu werden. Bis zum letzten Augenblick harren Sie bei Ihrer Beute auch im Angesicht eines herannahenden Autos aus. Auf fast allen Strommasten hängen die Nester der Mönchssittiche. Man fragt sich warum so ein kleiner Vogel so ein großes Nest braucht? Beim genauen Hinschauen stellt man jedoch fest, dass es sich um ein großes Wohnhaus für viele Vogelpaare handelt.
Nach etwa 250 km fangen wir an uns Gedanken über die Nachtunterkunft zu machen. Wir haben zwar gewusst, dass die Gegend wenig Infrastruktur bietet aber wir haben nicht gedacht, dass wenig hier gleicht nichts bedeutet. Nach einem hektischen Blättern im Reiseführer finden wir heraus, dass etwa in 30 km etwas kommt, mit eventueller Übernachtungsmöglichkeit. Es ist tatsächlich eine große Tankstelle mit Restaurant und einem kleinem Hotel aus drei Zimmern. Einen von uns hätte der Wirt dort noch unterbringen können, aber keinesfalls alle sechs. Schlafen wir heute zu sechst im Auto? Zum Glück haben wir dieses mal keinen Polo … der Typ an der Tankstelle gibt uns der Tipp, 25 km weiter zu fahren, nach Pozo Colorado. Kurz vor Dunkelheit kommen wir dort auch an. Die meisten Gebäude sind Bretterverschäge mit einem Vorhang statt einer Eingangstür. Dafür gibt es einen ordentlichen Supermarkt, der auch jetzt – am Sonntag um kurz vor 7 Uhr abends – noch offen hat. Da wir selber auf der Hauptstraße nichts finden, was einem Hotel ähneln könnte, fragen wir dort. Wir sind schon fast da, noch 100 Meter auf der Matschstraße nach rechts und da steht es – ein großes Wunder mitten im Nichts: mit Klimaanlage und gekühltem Bier. Unsere Kinder entdecken in der Toilette einen Frosch. Die Meinungen sind gespalten – einige kichern, die anderen trauen sich dagegen gar nicht mehr die Toilette zu betreten.
Wir unternehmen noch einen kleinen Spaziergang bis zum Supermarkt. Punkt 8 wird der Strom abgeschaltet, und bis die privaten Stromgeneratoren anspringen stehen wir auf der matschigen Straße orientierungslos in völliger Dunkelheit. Um uns herum ist nur das Quaken, Zirpen, Surren von unzähligen größeren und kleineren Tieren zu hören. Es ist ein Konzert, welches wir in solcher Intensität bisher noch nicht erlebt haben – im Dunkel noch viel eindrücklicher. Der kleine Ausflug hat jetzt ein Ziel – wir kaufen uns eine Taschenlampe. Mit ihrer Hilfe entdecken die Kinder auf der Straße weitere Frösche und bringen sie zum Hüpfen. Franka traut sich sie auch anzufassen und stellt fest, dass sie gar nicht nass und glitschig, sondern eher warm und trocken wirken. Arvid ist von der Aktion „Frosch“ so begeistert, dass er gar nicht zurück ins Hotel möchte, obwohl er schon längst hätte schlafen sollen. Er zeigt die dunkle Straße hinunter und sagt „da hinter“. Vor dem Hotel begrüßt uns eine mächtige Kröte, die so groß wirkt wie eine kleine Katze. Wir versuchen uns vorzustellen wie die Menschen sich hier gefüllt haben, als sie mit ihren Familien und ganzem Hab und Gut in den 30er Jahren aus der zivilisierten Europa hierher kamen. Wussten sie, was in der Nacht aus der Dunkelheit auf sie zukommen kann? Wie sind sie mit ihren Ängsten umgegangen? Glaubten sie immer an das Erfolg ihrer Mission in dieser lebensfeindlichen Gegend?