(01.11.2016 – Tag 864)
Wir haben zwar gerade einige Tage im Dschungel verbracht, aber genug von der Natur haben wir noch lange nicht. Daher entscheiden wir uns für einen einsamen und wenig befahrenen Weg durch den National Park Sangay zurück ins Altiplano. Unser Reiseführer bietet über das riesige und touristisch kaum erschlossene Gebiet so gut wie keine Informationen. Wir hoffen, dass sich unterwegs trotzdem was ergibt.
Eine nagelneue gut geteerte Straße führt uns durch die Berge. Wir haben für die Jahreszeit ein seltenes Glück: eine freie Sicht auf die unverhüllte Spitze des Vulcan Sangay. Das frühe Aufstehen hat sich gelohnt (Thomas hat sich durchgesetzt). Kaum eine halbe Stunde später verschwindet der Berggipfel hinter den grauen Wolken.
Das Vorhaben des Straßenbaus hat unter der lokalen Bevölkerung und insbesondere den Naturschützern zu heftigen Diskussionen geführt. Die Regierung in Quito würde gerne die infrastrukturell kaum erschlossene Region weiter entwickeln, wozu eine Straße die erste Voraussetzung wäre. Die Naturschützer wiesen auf die damit verbundene irreversible Schädigung des Ökosystems des Schutzgebietes hin. Im Endeffekt hatte die Regierung mehr Macht obwohl die Naturschützer zweifellos im Recht waren. Überall an den Straßenseiten reihen sich kleine Orte und einzelne Höfe. Männer mit Motorsägen laufen in den Wald, um Bäume zu fällen und Felder zu roden. Hautfarbe und Statur der Menschen sieht man an, dass die Bewohner der Häuser nicht zu den Shuar sondern zu den Hochlandstämmen gehören, die mit dem Regenwald nicht umzugehen wissen und wenig Wert auf den Schutz der einmaligen Natur zu legen scheinen. Was für ein Pech für den Nationalpark! Es hat einmal wieder Profit über Natur gesiegt.
Nach ein paar Stunden Fahrt entdecken wir einen ausgeschilderten Wanderpfad. Es ist schon fast Mittagszeit. Wir packen eine Packung Kekse und eine Flasche Wasser mit ein. Bis zu den Bergseen (2 Stunden Wanderzeit einfach) kommen wir heute ganz bestimmt nicht, aber vielleicht gelingt es uns, einen Einblick in die hiesige Flora und Fauna zu erlangen. Doch das haben wir uns viel zu einfach vorgestellt. Wir sind schon wieder viel zu hoch oben. Die Luft ist dünn, die Sonne brennt vom Himmel, der Weg führt einen steilen Hang hoch. Als ob das alles nicht genug wäre, verwandelt sich der Pfad schon nach den ersten Hundert Metern in einen undurchdringlichen Matsch: ohne Gummistiefel ist es nicht machbar, und selbst mit Wanderschuhen ist der Pfad kaum zu schaffen.
Die Vegetation um uns herum ist ziemlich dicht. Das Gras ist so hoch, dass man die Kinder darin nicht mehr sieht. Als die Kinder ihre Kekse auspacken, kommt ein Schwarm riesiger Fliegen und will mit ihnen teilen. Die Insekten sind so penetrant und zahlreich, dass unsere Kinder sich es dann ganz schnell anders überlegen. Die Kekse verschwinden wieder im Rucksack, Natalya packt Arvid auf den Arm, und wir rennen durch den Matsch, über Stock und Stein wieder zur Straße. Um uns herum brummt und summt es ziemlich heftig. Haben die Bestien es auf uns oder auf die Süßigkeiten abgesehen? Für einen kontrollierten Versuch fehlt ein Freiwilliger… Das ist schon überraschend, wie feindlich die Natur hier ist. Selbst im Dschungel war sie um einiges freundlicher. Schnell springen wir in unser Auto. Nichts wie weg!
Beim nächsten Wanderversuch ein paar Kilometer weiter erklimmen wir einen kleinen Hügel. Es geht um einiges besser: der Pfad ist nicht so steil, fest getreten und vor allem ohne brummende Bestien. Von der Spitze des Hügels öffnet sich uns der Blick auf türkisfarbene Lagunen. Zwei Radfahrer – ein junges Paar – kommen uns entgegen. Sie radeln hier bergauf bergab auf fast vier Tausend Metern Höhe, mit allem Gepäck was man für so eine Reise braucht.
Unsere Kinder hatten die Hoffnung, dass sie sich in der Lagune baden konnten. Doch selbst die Luft ist trotz der Sonne so kalt, dass ihnen jede Lust vergeht. Außerdem ist das Ufer ziemlich flach und matschig und dicht mit Schilf bewachsen. Statt zu baden setzen wir uns im Windschatten ans Ufer und essen unser Standard-Mittagessen für unterwegs: Brötchen mit Käse und Brötchen mit Schokolade. Obwohl die Bäckereien von den kleinen Bäckern betrieben werden, und sicherlich zu keiner Kette oder Konzern gehören, bieten sie quer durchs Land ziemlich das Gleiche an.
Es wird Zeit eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Im ersten Dorf nach dem Nationalpark gibt es eine primitive Hüte. Doch heute hat Thomas keine Lust mehr auf prähistorische Hotels und steigt als Natalya mit der Wirtin verhandelt nicht mal aus dem Auto aus. Obwohl die Kinder murren – hier hätte es Pferde zum Reiten geben können – entscheiden wir uns für eine Weiterfahrt nach Guamote. Unter Berücksichtigung der Höhe und der Kälte, ist das mit Sicherheit keine schlechte Entscheidung.
Die Straße führt wieder runter ins Tal. Die Hügel werden immer grüner und saftiger. Der Gesamteindruck erinnert uns sehr an unsere Reise durch das ländliche Peru vor einigen Jahren. Die sich an die Straße schmiegenden Dörfer bestehen größtenteils aus einfachen Lehmhütten. Die Bewohner tragen grobe, wollige Ponchos, die obligatorischen Hüte gehören dazu. Die Gesicher sind dunkel und von der Sonne gegerbt. Von den Siedlungen aus kriechen die Felder bergauf in alle Richtungen. Jedes Fleckchen Erde wird landwirtschaftlich benutzt. Die umliegenden Hügeln sehen wie ein bunter Flickenteppich aus. Häufig fahren wir vorbei an tief gebückten Frauen, die auf ihrem Rücken die Feldzeugnisse die Straße entlang schleppen. Lasttiere werden nur für die schweren Milchkannen benutzt. Wir überholen einen „Schulbus“ – ein Pick up, auf dessen Ladefläche Kinder unterschiedliches Alters, die meisten im Stehen, nach Hause fahren. Die Kleinsten sind etwa 6-7 Jahre alt. Die Straße ist nicht geteert und ziemlich holprig. Wer keine Beule möchte, muss sich kräftig festhalten. Denkt man die wenigen Autos weg, kann man sich leicht vorstellen, wie das Leben hier zu der Zeit der Inka ausgesehen hat.
Da die Straßen unverständlich ausgeschlidert sind, verfahren wir uns und machen einen etwa 30 Kilometer langen, aber landschaftlich recht reizvollen Umweg über kleinste Straßen. Als wir in Guamote ankommen, dämmert es schon. Die Hotels hier sind überraschend teuer. Der Ort besitzt einen bekannten Markt, eine Touristenatrakktion. Übernachtungsmöglichkeiten für Einheimische können wir nicht finden. Sie müssen doch auch von überall her zum Markt kommen. Doch offensichtlich haben sie dann andere Übernachtungsmöglichkeiten als in Hostals.
Als wir am Abend durch die Stadt schlendern, beobachten wir eine Familie, die ein schwarzes gut genährtes Schwein an einem Strick mit sich führt. Das arme Tier will nicht über die Gleise und wird so lange gezogen und geschlagen, bis es doch nachgibt. Am Bahnhofplatz werden gegrillte Hüherfüße verkauft. Unsere Kinder wundern sich: „Warum grillt man das? Da ist doch nichts dran?“ Doch hier wird nichts weggeworfen. Auch aus Schweineschwarte werden streifen geschnitten und zum Bohnen serviert. Leider können wir den Markt nicht besichtigen. Er findet nur ein Mal die Woche statt, und wir sind einen Tag zu spät. Nach einer Übernachtung fahren wir weiter – nach Riobamba.